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    Reiseberichte

    Hi!

    Schreibt hier eure Reiseberichte.
    Wie ist es, wenn man beginnt zu verstehen, dass wir auf einem Planten leben und welche Erfahrungen habt ihr?


    Ich mach mal den Anfang.


    Reiseberichte

    Goa/Indien 1997

    Hast du schon mal ein Feuer in der Schwerelosigkeit gesehen? Es ist wie eine Flüssigkeit, es umspült alles, kommt in Wellen, Welle auf Welle. Es ist schön!

    Wie kann es nur sein, dass diese Frau es schafft, die brennenden Fackeln nicht einfach zu jonglieren, sondern dieses auch noch im Rhythmus des Beats?
    Ihr mit Neonfarben bemalter Körper bewegt sich anmutig, ich vergesse zu tanzen. Wird sie zu mir schauen? Ja! Ein Lächeln, eine kleine mimische Andeutung. Was will sie mir sagen? Ahh! Ich verstehe!

    Mein Körper fängt wie ein Segel den Wind des Beats und beginnt sich zu bewegen. Der Übergang aus der respektvollen Starre ist weich und fließend, wie flüssiges Feuer halt.
    Ich erwidere ihren Blick, sie zwinkert, ich beginne meine Reise in angenehmer Gesellschaft.

    Weiß scheint der volle Mond und wirft sein silbernes Licht auf die ansonst dunkle See. Es ist so intensiv, dass ich meine die Horizontlinie zu erkennen. Auf der Wasseroberfläche spiegelt sich das Mondlicht in einer Lightshow der Natur. Passt zur Musik.
    Um mich herum Menschen. Viele Menschen!
    Ich spüre so langsam das Adrenalin in mir und bemerke, wie sich die Maschine Körper vorbereitet auf Arbeit. Arbeit mit einem schönen Lohn.

    In meinem Kopf herrscht eine Klarheit, wie es die Luft in Sibirien ist. Klar und trocken und kalt. Nicht im negativem Sinne, Wärme nimmt der Körper genug wahr. Es sind mindestens 28°, am Tage waren es 36.
    Die Gedanken sind geordnet, wie die Bibliothek in einem alten Schloss. Ich begehe sie und entnehme mir ein Buch. Ganz zielbewusst. Das Buch handelt von Zeit.

    Was ist Zeit? Was ist das Gefühl von Zeit? Wie macht es sich bemerkbar?
    Der Mond steht hoch am Himmel, ich kann mich erinnern, wie er noch groß und fast orange über dem Meer aufgegangen ist. Nun ist er kleiner und weiß. Warum? Ach ja, die Lichtbrechung! Ich erinnere mich an einem Zustand in der Vergangenheit und spüre durch den Unterschied zum jetzt den Lauf der Zeit. Was ein herrliches Gefühl! Ich bemerke, dass ich inzwischen nicht mehr leicht die Beine wippe, sondern dass sich meine Arme in Bewegung gesetzt haben. Ja, Zeit ist eine schöne Wahrnehmung und wie zur Bestätigung fängt mein Blick den der jonglierenden und leuchtenden Frau. Augen sprechen miteinander in einem Augenblick.

    Ist die Zeit ein Naturgesetz? Kann man sie mit einer Formel versehen? Kann man ein Gefühl unter einheitlichen Richtlinien einordnen? Schon komisch, da versuchen wir Menschen uns ein gegenseitiges Verstehen der Zeit zu geben, indem wir uns Uhrzeiten nennen. Gibt es nicht weitaus schönere Arten dieses zu tun?
    Brauchen wir das als Sicherheit und wenn ja, Sicherheit wovor?
    Jeder Lebenszustand in einem Rahmen gepackt. Wie ein Gemälde. Gemälde im Rahmen der Zeit. Erinnerungen als Taktgeber der Reise. Die Musik ist schön!

    Das Leben bestehend aus Kapiteln eines mit Sicherheit mal endenden Romans mit ungewisser Fortsetzung. Falls es keine gibt, dann lieber diesen intensiv lesen, oder besser leben.

    Etwas brennt in meinem linken Auge. Ich beginne zu schwitzen und ein erster Tropfen hat sich dorthin verirrt. Ich sehe weit entfernt die beiden DJs an ihren Turntables. Sie sind mit einem dunklen blauen Licht umgeben, hinter ihnen lächelt ein gigantischer Shiva zu mir. Die beiden sind gut, sie lassen genüsslich Musik in die Masse und freuen sich sichtlich. Einer werkelt mit dem Blick eines kleinen Jungen bei Weihnachten an seinem Laptop und der andere unterhält sich mit einer verdammt hübschen Gestalt! Shiva scheint auch seinen Blick gewechselt zu haben und schaut weiter lächelnd.

    Verschiedene Geräusche springen durch die Luft, wie Ballons, dazu tragend der vitale Beat des Goas. Kleine Stroboskope blitzen hin und wieder, die Masse ist in synchroner Bewegung. Wie sagt doch gleich Faithless? „God is a DJ!“ Und wieder trifft mich Shivas lächelnder Blick, vor dem plötzlich ein anderes auftaucht.

    Ich erschrecke mich, aber nur kurz. Die Neondame jongliert jetzt lieber ohne Fackeln. Mein Gott, ist die schön! Eine Abgesandte Shivas und ich frage mich, ob der Joint nicht doch ein bisschen heftig war. Na ja, besser die Joints. Der Tag war heiß und nebelig und ich habe bei 37° mit einem Engländer, der wie eine Bob Marley-Inkarnation aussah gehandelt. Anstelle wie die Kashmiris beim Handel Tee anzubieten, bot dieser mir immer wieder sein Schillum an und ich war gewaltig im Nebel! Der Flohmarkt in Anjuna ist schon ein Erlebnis.
    Na ja, das war am Tag und nun tanze ich hier mit dieser Frau. Wieder dieses Gefühl der Zeit!

    Mein sibirischer Kopfspeicher versorgt mich mit den nötigen Informationen und schnell erkenne ich dieses Gesicht. Ja, ich hatte sie schon ein oder zweimal gesehen. Auf dem Flohmarkt und bei der letzen Full Moon-Party. Sie heißt Iris und kommt aus Österreich. Ich habe ja immer wieder Österreicher auf meiner Reise getroffen, aber sie blieb mir in Erinnerung. Auf dem Flohmarkt lernte ich sie kennen, als sie einer anderen Frau aus Schottland erklären wollte, dass ihre Hauptstadt „Vienna“ und nicht Sydney ist. Andauernd verstand die Schottin „Australian“ anstelle „Austrian“. Iris und alle anderen Österreicher taten mir leid. Ich habe diesen Dialog des Missverständnis so einige Male erlebt.
    Und was war Iris stolz auf ihr „Vienna“. Später erzählte sie mir begeistert von den Altbauten und einem Stadtviertel, dessen Namen ich leider nicht mehr weiß. Muss so eine Art Kreuzberg von Wien sein.

    Iris schaut mich an, wir bewegen uns so gleichmäßig, dass unsere Gesichter wie still gegenüber stehen. Sie formt mit ihren Lippen ein Wort. Ich muss Lippen lesen, die Musik ist so laut, wir müssten ansonsten schreien. Ich erkenne das Wort sofort, sie meint „Wien“!
    Ich nicke und forme meinen Namen der Stadt wo ich wohne. Sie streichelt meine Wange und wiederholt den Namen mit ihren Lippen. „Berlin“. Ja, wir verstehen uns! Sie wischt mir den brennenden Schweiß von der Stirn und hält mir eine kleine Thermosflasche hin. Ich schaue sie an, sie schüttelt leicht mit dem Kopf und ich nehme einen großen Schluck. Ich vertraue dieser Frau, was man ansonsten lieber nicht tun sollte auf den Full Moon-Partys, erst recht nicht dann, wenn man die andere Person nicht oder kaum kennt. Ich lasse die angenehm kühle Flüssigkeit in meinem Mundraum und warte auf den Geschmack. Dieser entfacht sich wie ein Fächer. Es ist Limonengeschmack. Kaltes Wasser mit Limone, nichts alkoholisches. Ich erinnere mich, Iris ist von Beruf Krankenschwester. OK, mein Instinkt war in Ordnung. Sie würde niemals Chemie anbieten, geschweige denn zu sich nehmen. Später sollte ich diesbezüglich noch einen eindrucksvollen Beweis ihrer Fürsorgepflicht gegenüber anderen Menschen kennen lernen, aber das ist eine andere Geschichte.

    Um mich herum erheben sich die Arme, ich schaue mich um, auch meine Arme sind schon lange oben angekommen. Ich erkenne die dunkle Stimme von Faithless. „Insomnia please release me and let me dream about making mad love...“ Wunderbar eingebracht, im Gewand des Goas erscheint diese so bekannte Melodie von Insomnia.

    Ein Johlen geht durch die Masse, ein Israeli lächelt mir zu. Muskel bepackt, ein wandelndes Kraftpaket mit den Augen eines Kindes. Ich kenne ihn, er war 8 Jahre bei der israelischen Armee. Hat einiges durchgemacht, aber im Gegensatz zu vielen anderen jungen Israelis hier in Goa ist er ein Mensch, der sich mit Worten ausdrückt und nicht mit Gewalt. Ohne Vorurteile zu lieben, habe ich dieses leider in Goa aufgebaut. Mich dagegen zu wehren, machte keinen Sinn, dafür habe ich allzu oft den Sanitäter spielen dürfen.
    Die Musik ist dynamisch und ich habe noch diesen angenehmen Geschmack von Limone im Mund. Ich reiche die Flasche weiter an den jungen Israeli und er nimmt dankend an. Friedlich sein ist schön und miteinander feiern zu können und den zeitlosen Moment zu genießen auch.

    Ich blicke zu Iris, die mit geschlossenen Augen den Worten von Faithless schaut und dabei ihren Körper sprechen lässt. Zuhören und gleichzeitig reden. Wenn Iris etwas beherrschte, dann dieses.
    Ich kann nicht anders und küsse sie auf die Wange! Ihre Augen öffnen sich und ein Moment es Verstehens wird zu einem neuen Gefühl der Zeit und beide versinken wir in gemeinsamer Gewissheit.

    Beide hatten wir einen ziemlichen Sprung auf dem Globus gewagt und befanden uns in einer neunen und anderen Welt. Nicht ganz so leicht, da einfach das innere Programm zu wechseln. Vor uns lagen Varanassi und Kalkutta. Letztere Stadt sollte unser Zuhause für fast ein Jahr sein.
    Sogesehen betrachte ich die o.g. Erinnerung als ein weiches Umschalten. Noch gab es genug Aspekte einer Kulter, welche uns beiden vertraut war, die Musik und das Tanzen zum Beispiel. Sicherlich half auch das Dope, doch davon brauchten wir später nichts mehr. Kalkutta wurde zur Droge, mit nicht nur angenehmen Wirkungen, aber umso lehrreicher waren die Erkenntnisse und Gefühle, welche wir erfuhren.

    To be continued...
    Zuletzt geändert von EREIGNISHORIZONT; 03.03.2005, 06:28.
    "Education is the most powerful weapon which you can use to change the world."Nelson Mandela
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    #2
    OK. lange ist´s her. Also hier die Fortsetzung!


    Quelle

    Ist von euch schon mal jemand 53 Stunden Zug gefahren?

    Indien ist groß, das wurde mir bei dieser Zufahrt das erste Mal bewusst.
    Indien hat so verdamt viele Menschen, auch das erkannte ich auf dieser fahrt! Es war verdammt eng, und ich war unheimlich stolz auf meine oberste Schlafbank, welche ein angenehmes Refugium von der Masse war.

    Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, jemals so viele und interessante Menschen auf einer Reise getroffen zu haben. Ehrlich nicht.

    Da war Tom aus Perth/Australien und natürlich Heike, meine treue und liebe Freundin, die den Indien Trip mit mir machte.
    Tom und Heike mochten sich, soviel ist sicher!
    Iris, der Engel der Musik natürlich, und eine kompetente Kollegin!

    Wir hatten das Glück in einem Wagon zuammen mit einer indischen Schulklasse aus Agra zu sein. Die waren auf Klassenfahrt nach Kalkutta. Ansichten mit denen zu tauschen war wirklich spannend und informativ. Alleine der Lehrer war schon spitze. Er wollte die ganze Zeit den Sinn unserer Reise in die Stadt der Freude verstehen, was er letztendlich dann auch tat.

    Wir erreichten Howrah-Station morgens gegen 10 Uhr.
    Ich weiss noch die Nacht zuvor sah ich indische "Prärie" im Mondlicht und dann dieser Kontrast.
    Ein Meer von Menschen, Geräusche in einer Vielfalt, die echtes "Multi Tasking" von einem verlangen, genauso wie die Gerüche, ganz zu schweigen natürlich von den visuellen Eindrücken.
    Howrah Station ist der größte Banhof von Kalkutta. Neben Victoria Station im damaligen Bombay einer der belebtesten.
    Belebtesten...makabres Wort irgendwie, denn neben Leben herrschte auch der Tod in diesem Bahnhof und zeigte sich in grausamen Realitäten. Von sich suizidierenden Menschen (auf den Gleiskörpern) bis hin zu den vielen "schlafenden" Seelen in der Halle. In Kalkutta gehen Leben und Tod wirklich Hand in Hand. Das zu verstehen, es zu akzeptieren, war schwer.
    Iris hat gekotzt, Tom heulte und ich war kataton. Konnte nicht laufen, wusste nichts mehr, wirklich nichts.
    Heike war die einzige von uns, die einen klaren Kopf behielt und uns da raus zog.
    Wir beschlossen in die Stadt zu laufen, anstelle ein Taxi oder Riksha zu benutzen. Danke Heike!

    Es waren so ca. 6 Kilometer bis zur Sudder Street unserem Ziel.
    Auf dem Weg dahin lösten sich unsere Ängste und das wertfreie Verstehen übernahm die Regie im Kopf.

    Quelle
    Als wir die Howrah Bridge, eine gigantische Stahlbrücke zur Hälfte überquert hatten, sah ich den Hoogly River und die Kulisse dieser riesigen Stadt.
    Es heisst, Kali (die Schutzgöttin Kalkuttas zeigt dir ob du willkommen in ihrem Reich bist. Auf der Brücke tat sie es. Ein nur schwer zu beschreibendes Gefühl. Nur soviel, es war ein wirklich ruhiges Gefühl.
    Ich wusste von diesem Moment an, dass diese Stadt eine wichtige Rolle in meinem Leben einnehmen sollte.

    To be continued...
    Zuletzt geändert von EREIGNISHORIZONT; 17.03.2006, 23:12.
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      #3

      Quelle
      Mein Gott, was können Rucksäcke schwer sein, das ist mir wirklich schmerzlich bewusst geworden, als wir dann endlich unser Ziel, die Sudder Street, erreichten.
      Kann mich noch daran erinnern, dass ich beim Indischen Museum wirkliich das Gefühl hatte, ich habe keine Rücken mehr. Alles war taub, ich war naß wie geduscht, auf der Haut ein schmieriger Film. Kalkutta heisst mich willkommen in einem Bad aus Gasen und Partikeln. Willkommen auf der Venus, dachte ich damals wirklich!

      Wir betraten die Sudder Street. Eine ca. 1 Km lange Straße mit vielen Lodges, Bagpackern und noch mehr Kindern. Die eigentlichen Herrscher der Sudder Street, das sollten sehr bald merken.
      Vorbei an Opium kauenden Rickscha-Puller, die gelangweilt und nicht wirklich uns betrachteten, wobei wir hingegen aussahen wie staunende Kinder in Disneyland.
      Uns begrüßten sofort 2 Kinder, die uns hektisch entgegen rannten. "Pen...you have pen?"
      Die hatten wir!

      Ab sofort hatten wir durch diesen Handel unsere persönlichen Guides und Guards für die folgenden Wochen.
      Leider habe ich die Namen nicht mehr im Kopf, sie waren auch verdammt schwer auszusprechen. Hingegen erkannten diese Kinder uns 2 Jahre später mit unseren Namen. Unglaublich!

      Die beiden, 2 Jungen im Alter von 7 und 9 waren wirklich unsere Schutzengel, Freunde und einfach nur tolle Kinder, durch deren Augen wir Einblicke genießen durften, die bis heute unvergesslich geblieben sind.

      Wir zogen in die "Blue Lodge", ein wirklich Oase in dieser Stadt der Freude und des Chaos.
      Gleich beim Check In sah ich diese Riesentafel mit zig Listen, Notes und das in zug Sprachen. Englisch, Deutsch, Dänisch. Schien eine Art Timetable oder so was zu sein. Na ja, wir bekamen unsere Schlüssel. Heike und ich hatten verdammt viel Glück ein 2-Bett Zimmer zu bekommen auf dem Dach. Genau vor uns entschied sich ein gefrustets junges japansiches Pärrchen die Stadt zu verlassen. Irgendwie sahen die sehr gequält aus, vor allem die Frau. Ich war irgendwie ziemlich nervös und gleichzeitig euphorisch. Kann das nur schwer beschreiben.
      Unsere beiden Kids durften leider nicht mit rein, dafür sorgte ein strenger älterer Herr mit einem Bambusstock. Komische Widersprüche in den Gefühlen. Allles zusamen gemichst. Man ist auch nach bereits 2 Monaten Indien und den Erlebnissen in Bombay auf ein Neues mit völlig neuen Extremen konfrontiert und nicht jeder hält das aus.
      Na ja, wir hatten unser Zimmer und als ich auf dem Dach stand, war ich so glücklich, wie selten in meinem Leben.
      Die Aussicht besrtand aus einem Meer von Häusern, Fenstern, Balkons und einen grau blauen und milchigen Himemel. Feucht und heiss.
      Was mir als erstes auffiel, hier schien alles so, wie in Zeitlupe abzugehen.

      An Steintischen saßen ein paar Dänen und Israel und zogen sich die Birne zu, laut lachend und doch klang das wie gedämpft, so als wenn man in einem Aufnahmestudio spricht.
      Eine Schweizerin, weiss ihren Namen auch nicht mehr, büffelte über irgendwelchen Papieren. Sie war Krankenschwester, wie sollte es anders sein, sie kam aus der Schweiz. Juchlis Heimat!

      Wir bezogen unser Zimmer. 8 m² und 2 Feldbetten. Heike war eine wahre Künstlerin im Einrichten und holte ein Optimum an Luxus und Bequemlichkeit aus dem kleinen Verschlag. Ich habe sie oft deshalb so bewundert und das auch heute noch.

      Regel Nummer 1 in Indien. Immer genug Wasser haben. Also erst einmal ausgepackt und während Heike ihre Kunst auslebte, ging ich los Wasser holen. "Bisleri" war unsere Lieblingsmarke, auch wenn man nicht immer sicher sein konnte, ob die Siegel wirlich nicht gefaked waren. Wir hatten aber immer Glück, was das betrifft. Auf jeden Fall verbrachten wir nicht Stunden in der Hocke, wenn ihr wisst, was ich meine!

      Ich schlenderte durch die Sudder Street, unsere Engel an meiner Seite.
      Ich beschloss erst einmal, mit diesen Kids nun feste "diplomatische" Verhandlungen zu führen. Diese resutierten in einer täglichen Versorgug mit Bananen, Orangen und Brot, sowie Wasser. Hin und wieder auch mal eine Dose Nestle Milkpowder.
      Als Gegenleistung versprachen die beiden auf uns aufzupassen.
      "When problem, you say. We help"
      Der Vertrag wurde von allen Parteien eingehalten!

      Ich bemerkte, dass unter den vielen kleinen Straßengeschäften (meist ein Wagen oder Kisten) auch nichtindische Leute ihre hatten.
      Einer, er erinnerte mich an einen ziemlich traurigen Jesus, verkaufte Bücher. Unmengen von Büchern. Und was waren da Schätze mit drunter. Hier entstand mein First Contact mit Philip K. Dick und einer englischen Buchreihe, die sich "SciFi-Omnibus" nennt. Ich tauschte noch viele Bücher mit Frank. Das war echt gut, man konnte tauschen und somit war ich fast auf der gesamten Indien Reise mit bester Literatur versorgt.

      Frank war 48 Jahre alt, einst ein vermögender Architekt aus NY, und hatte sich dazu entschieden, die Welt des Geldes zu verlassen. Das man trotzdem bezahlen muss im Leben, sollte ich 5 Jahre später erfahren, da war Frank tot.
      Ein total netter Kerl, mit dem ich bei meiner allerersten Tour durch die Sudder Street eine Ewigkeit diskutierte. Wir wurden gute Freunde, ich vermissen ihn!

      Duch diese lange Unterhaltung kam ich ziemlich spät in der Blue Lodge an und Heike hatte inzwischen Infos eingeholt. Sie saß mit der Schweizerin zusammen und Michaela aus Stuttgart. Diesen Namen habe ich nicht vergessen!
      3 Krankenschwestern, alle sozial, es war klar, was dabei rum kam. Ich lernte die große Tafel kennen, welche mir schon beim Checkin aufgefallen war.
      Die ganze Sudderstreet war eine Ansammlung an Lodges voll mit Voluntärs und nur wenigen "Einfach"-Reisenden. Auf jeden Fall mutierten wir somit in diese Kaste und ich war damals am Anfang gar nicht so glücklich. Nichts mit Chillen, kiffen, locker sein! Arbeiten!

      Die Sudder Street war noch eine Insel in dieser so merkwürdigen Stadt. Sie schirmte einen ab. Und das war auch wichtig.
      Wir erlebten Kalkutta so wie es ist. Chaotisch, hart und manchmal verdammt hart (s. Frank!) und dennoch so warm und energiereich. Eine wirklich einzigartigte Stadt mit Wundern und wo es nicht übertrieben ist zu schreiben, dass Magie dort ein ewiger Begleiter war.
      Wir lernten nicht nur diese Stadt und deren Menschen kennen, wir lernte uns kennen.

      To be continued...
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        #4
        All the things we use to know, you are trying to avoid. Correct me if I'm wrong, but I think you´ve become a real paranoid!

        Iris hatte es schwer in Kalkutta anzukommen, wir alle hatten es schwer.
        Aber ich will trotzdem was über Iris schreiben, da sie mir ein wertvoller Spiegel in diesen Tagen war.

        In Iris Kopf waren die Bilder und Geräusche aus Goa und sie konnte nur verdammt schwer los lassen. Sie hatte es schwer, sich vorzustellen in diesem Konzertsaal der Kakophonie zu sein. Sie kannte nur Clubs, glückliche Menschen und abgespaced über die Tanzflächen schweben. Kalkutta wollte da nicht so richtig passen.

        Sie verbrachte unheimlich viel Zeit im Dormitory, die billigste Variante in der Blue Lodge. Sie saß mit ihren Walkman auf dem Bett, zog sich Joints durch und machte ihre inneren Fenster dicht. Sie wollte nichts von dem hier sehen, hören, riechen. Ihr Zustand war in den ersten Tagen wirklich besorgniserregend.
        Ich kann mich erinnern, dass ich eine Zeit lang nicht arbeitete und viel Zeit mit ihr verbrachte.
        Es entstanden Debatten in der Gruppe. Inzwischen hatten sich 3 weiter Peronen unseren kleinen "Clan" angeschlossen. Einige übertrieben es mit den Kritiken an Iris, nannten sie "Ballast". Die Streitereien waren nicht schön.
        Dennoch kam etwas dabei rum, ja wir lernten alle in dieser Stadt Komromisse einzugehen, weil man es am laufenden Band tun muss. Ansonsten ist Kalkutta eine Hölle für jemanden.

        Iris bekam die Verantwortung für administrative Aufgaben. Und die wichtigste und einzige Aufgabe dieser Natur war das Holen und Bringen der Post. Nabelschnüre nach Hause per Loftpost!
        Iris ging es damit deutlich besser, sie konnte ihre Musik hören, während sie durch die Straßen zum General Post Office lief. Sie wusste, dass sie allen in der Gruppe Freude durch das Bringen der heiß ersehnten Briefe machte und somit begann auch sie sich mit der Stadt anzufreunden.
        Jeder muss seine Frequenz finden, auf der er mit Kali sprechen möchte.

        An einem Abend, es war ein heftiger Tag gewesen. Gab es überhaupt mal nicht heftige Tage?

        Wir saßen in einer gemütlichen Runde mit Menschen in der Lodge auf dem Dach. Das war einfach eine Tradition dort. Alle, meisten Voluntärs, trafen sich zum "Chillout".
        Bei diesen Runden habe ich mich wirklich entspannen können.
        Iris war mit einem Israeli am debattieren. Sie kannte ihn sogar aus Goa! Indien kann klein sein, man trifft tatsächlich den einen oder anderen Bagpacker wieder.

        Sie unterhielten sich über ihre gemeinsamen Schwierigkeiten anzukommen. Dabei machte Iris eine Bemerkung, die ich bis heute nicht vergessen habe.
        Sie meinte, dass wir wohl alle hin und wieder paranoid sein müssen, um zu verstehen wie relativ alles ist und wie wichtig es dabe sei, an Konstanten festzuhalten.
        In der Etablierung von Struktur und der gleichzeitigen Akzeptanz des Chaos lag das Rezept.
        Recht hat sie!

        So gingen wir also, manchmal paranoid, durch die Strassen dieser Stadt und begannen zu verstehen, was Leben für einen wirklichen Wert hat.

        Irgendjemand sagte mal "Mache jeden Tag etwas, was du nicht tun willst, nur einmal, aber regelmäßig!"

        Wird fortgesetzt...
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          #5
          Hausbesuch


          Quelle

          Dieser verrückte Thorben!

          Thorben war ein Däne und ein wirklich draufgängerischer Kerl. Ich lernte ihn bei einem dieser allabendlichen "Chillouts" auf dem Dach der Blue Lodge kennen.
          Er erzählte mir viel aus seinem Leben und wenn ich ein prägnantes Detail seines Lebens faszinierte, dann diese "Tue jeden Tag etwas, was du eigentlich nicht willst"-Einstellung.
          Thorben lebte diese Regel in Essenz. Hatte schon einiges durchgemacht in seinem Leben und war so lieb, wie ein Mensch nur sein kann.
          Er ermutigte mich, mit den holländischen Ärzten aus der "Modern Lodge", das war eine Art "Konkurrenz in der Stadt" für uns, in die Slums nach Hovrah zu gehen.
          Hovrah, das war der Abgrund, die Hölle, das Zenrum von Kalis Horror-Reich. Dort lebten die, die nur sich und das Überleben hatten. Nah an großen Gleisanlagen lagen die Wellblech-Hütten, Zelte, aus Müll zusammen geschusterte Verschläge. Die Personen- und Güterzüge, welche Hovrah-Station erreichten und verließen, waren für viele Hindus eine Art "Ersatz-Ganges". Viele hofften auf den Gleisen die Reisen ins Nirvanha antreten zu können. Im Glauben der Hindus allerdings, ist der Suizid eine schlimme Sache, im nächsten Leben kommst du als Hund wieder. Es wimmelt in Hovrah nur so von Hunden.

          Alle warnten mich. Ich hatte einen heftigen Streit mit Heike. Sie wollte nicht dahin, und sie meinte, dass ich mich genauso gut gleich einweisen lassen könnte. Ob ich mir mein ganzes Hirn weg gekifft hätte in Goa, meinte sie wütend.

          Vielleicht war das so. Vielleicht war ich verrückt. Aber ich konnte nicht anders und Thorben schien mir ein guter Begleiter und auch Beschützer zu sein. Er weilte schon 2 Jahre in dieser Stadt, eigentlich wollte er nur für 3 Monate in Indien sein.

          Wir fuhren morgens gegen 6 Uhr los. Die Straßen waren leer. Ich kann mich noch erinnern, wie unheimlich das auf mich wirkte. Ein irgendwie blau-gräuliches Licht schimmerte beim Sonnenaufgang. Die Sonne konnte man erst gegen 10 als eine milchige Scheibe sehen. Vorher liess der Smog das nicht zu.
          Was angenehm war, die Luft war relativ sauber. Na ja, sagen wir mal 10 mal Berliner Smog! Aber das war im Vergleich zu Spitzenzeiten des Verkehrs in der Stadt eine Wohltat. Und es war nicht so heiss!
          Auf den Straßen waren nur vereinzelt Fahrzeuge und Menschen unterwegs. Eine irgendwie schöne Ruhe, die ich bei meiner Nervosität auch herzlich begrüßte.

          Wir fuhren auf 2 Pickups, 15 Leute. Ich glaube 3 waren Ärzte, ein paar Sanitäter und Krankenpfleger und -schwestern, sowie junge Studenten. Einer aus der Medizin und 1 aus der Germanistik!! Was der hier machte, war mir echt ein Rätsel. Es war ein Amerikaner aus dem Süden der Staaten, sehr jung.
          Zu ihm mehr gleich.

          Eine Schule war unser Ziel. Sie lag inmitten der Slums, war eine alte Polizeistation mal gewesen. Dort begrüßten uns ein paar nette junge Inder. Sie kamen aus den Slums und waren unsere Scouts. Ari, wo nannten wir ihn, war so um die 20 und ein sprachbegabter Mensch. Er begrüßte mich in einem sehr guten Deutsch, das war echt skuril. Mitten in den Slums, und ich höre mir schwäbisch klingendes Deutsch an, von einem Inder. Krass!

          Wir bauten erst einmal Klapptische auf, Kisten und Stühle. Impfungen waren angesagt. Die ersten paar Stunden war es meine Aufgabe, Spritzen aufzuziehen und Flyers zu verteilen mit Bildern. In Form von kleinen Comic-Geschichten wurden Infektionen und deren Vermeidung erklärt.
          Es dauerte nicht mal eine halbe Stunde, und es waren so um die 100 Menschen um uns herum versammelt. Die Zeit flog nur dahin, und ich war darüber sehr verwundert. Auf einmal registrierte ich die milchige Sonne, es war 10 Uhr, und ich dachte wie schnell die Zeit rast.
          Viele der Leute waren junge Frauen mit ihren Kindern. Sie waren an den Spritzen und den Flyern nicht interessiert. Sie wollten Milchpulver, was zu essen. Sie zeigten immer wieder auf ihre Kinder, die sie wie Gegenstände in den Händen hielten und forderten.
          Ich hatte große Schwierigkeiten, selbst Thorben und einer der Ärzte, obwohl sie Hindi und Bengali sprachen.
          In den Slums von Kalkutta waren nicht nur Menschen aus Bengalen, sondern vom geammten Subkontinent und Bangladesh. Viele Dialekte.

          Der junge Amerikaner hatte es auch nicht leicht.
          Er versuchte immer alles zu erklären, konnte nur englisch und war ziemlich verstört. Er wurde immer hektischer. Ich bemerkte, dass er zu stottern begann und als dann eine indische Mutter ihr Kind aus Protes auf den Boden warf, wurde der junge Studend bewusstlos.
          Wir hechteten zu ihm, und begannen ihn in die Shocklage zu bringen. Ein Arzt schaute sehr besorgt und ich brauchte nicht lange um zu verstehen, dass das hier mehr als nur ein Kollaps war.
          Der junge Mann hatte einen Zuckerschock und war dehydriert. Er hatte einfach zu wenig getrunken und nicht ordentlich gegessen, obwohl er Diabethiker war.
          Glücklicherweise konnten wir ihm eine Infusion anhängen und Glucose zukommen lassen, ansonsten wäre er bei Kali geblieben.

          Der Rücktransport in die Innenstadt war beschwerlich. Die Straßen waren dicht gepackt mit Menschen, Autos, Tieren und der Weg ns Krankenhaus lang.
          Der Amerikaner wurde, soviel ich weiss, wieder gesund und kehrte in die Staaten zurück.

          Nach diesem ersten Ausflug in die Slums, hatte ich erste Eindrücke der anderen Seite von Kalkutta kennen gelernt. Das war nicht die Sudderstreet, das war ein Ort des Sterbens und der Lethargie.
          Aber gerade hier sollte ich die schönste Zeit verbringen und auch Heike, die später doch dabei war, hat nicht diese Zeiten vergessen und schwärmt heute noch davon.
          Thorben hatte mir den Mut gegeben, eine innere Mauer zu überspringen. Er hatte mir dazu verholfen, den Sinn zu verstehen, wieso Dinge so sind wie sie sind.
          Dinge haben nicht immer einen Wert und sind einfach. Sie können nicht als gut oder schlecht bezeichnet werden.
          Es ist komisch, aber nimmt man diese Bewertungen weg, herrscht Platz für eine andere Art der Wertrung. Nicht eine vom Kopf, sondern vom Herzen, anders kann ich es nicht beschreiben.

          Auf den nächsten Aktionen in den Slums, nahm ich auch Teil an Hausbesuchen. Meist waren es Leprakranke. Wir machten Verbände, verabreichten Antibiotika und Schmerzmittel. Manchmal trauerten wir, manchmal feierten wir.
          Wir lebten mit diesen vielen Menschen, und wir lernten einige sehr gut kennen.
          Was mich besonders tief berührte, viele dieser Armen wollten immer etwas geben. Von einem jungen Familienvater, der 2 Kinder verloren hatte, bekam ich ein Halstuch. Ich habe es heute noch. Für diesen Mann der mit wertvollste Besitz und dennoch gab er ihn mit Freude. Ich habe selten so eine Dankbarkeit wieder erlebt.

          Diese Halstuch war eine Wohltat. Es diente als Maske für den ewigen Smog und ich musste es täglich waschen.
          Ein bißchen China-Öl in einem Eimer mit 5 Liter Wasser und das Tuch darin tränken, fertig ist ist "Klimaanlage" für die Lunge!

          So nach 2 Wochen war ich schon ziemlich orientiert in meiner Arbeit. Routine war sehr hilfreich und so konnte man sich mehr den Dingen zuwenden, die ansonsten mehr unbewusst abliefen.

          Es war eine dieser morgendlichen Fahrten nach Hovrah.
          Wieder dieses fahle Licht, wieder diese Ruhe vor dem Sturm.
          Ich beobachtete die Staßen, rauchte eine Prince. Einen Tag vorher hatte ich ein Paket bekommen!! Bohnenkaffee und Zigaretten!! Weihnachten in Indien!
          Ich genoß diese Prince und bemerkte plötzlich einen Mann auf der anderen Straßenseite. Torkelnd kam er auf uns zu. Er schrie und gestikulierte wild. Es war ein hellhäutiger Mann. Kein Inder. Er schrie, hatte weit aufgerissene Augen. Das Sonderbarste aber war, dass er nackt war!
          Wir lernten Poul kennen. Einen Belgier, dem das Opium schlecht bekommen war....

          Wird fortgesetzt...
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            #6
            Poul

            Mich verband viel mit Poul zu damaligen Zeiten. Als er auf uns zuwankte, war das eine meiner ersten Gedanken, daran kann ich mich deutlich erinnern.
            Beide waren wir auf der Flucht vor uns selbst, beide fanden wir uns selbst und beide hatten wir damit zu kämpfen. Jeder auf seine Art.

            Poul war damals so um die 30. Ich selbst 32.

            Poul war unglücklich angekommen in Indien, damit meine ich nicht seine Verfassung, sondern seine selbige Ankunft.
            In Mumbai haben sie ihm den Rucksack geklaut. Er hatte nur die Traveller -Cheques, seinen Pass und einen kleinen Handrucksack, sowie seine Klamotten am Leibe, als er in Kalkutta ankam. Er wollte zum Charity Orden (Mutter Theresa) und arbeiten. Er war streng gläubig und sah in allen seinen Unglücken irgendeine Bestimmung.
            Er war ein Schrank von Kerl, 100 Kilo Muskeln und Augen in fast 2 Metern Höhe. Und diese waren voller Angst, als er auf uns zukam.

            Heike tat das einig Richtige und ließ den Wagen anhalten, dieser Mensch hatte wirklich Probleme. Sie ging auf ihm zu und sprach zu ihm, reichte ihm eine Decke und Wasser. Sie war es auch, die entschied, ihn zur Lodge mitzunehmen. Ein weiser Entschluss.

            Damals habe ich die Psychiatrie noch nicht von innen gekannt, nicht als Patient und nicht als Pfeger, aber Poul war der erste Psychotiker, dem ich mit half. Nicht zuletzt wegen dieser Vorkommnisse bin ich heute in der Psychiatrie beschäftigt, weil ich in Poul erkannt habe, was für einen Horrortrip einem das Gehirn verpassen kann.

            Wir hatten so unsere Problem damit, das Personal der Lodge davon zu überzeugen, dass es richtig sei, Poul aufzunehmen. Wir übernahmen die Kosten, er hatte alle Cheques weg gegeben. Er meinte, dass sei Ballast auf seinem Wege zur "Selbstreinigung".
            Er bekam seinen Platz im Schlafsaal, Iris nahm sich dort seiner an. Ein Fehler, wie wir noch bemerkten sollen.

            Iris, die eh damit beschäftigt war, die skurilsten Leute an sich ranzulassen, entschloss sich dazu, mit Poul eine "Therapie" zu beginnen, und das in denkbar schlechtester Umgebung. Reize überall, Krach und Menschen, dazu die verschiedensten Sprachen. Keine geeignete Umgebung für einen Menschen, der seine Sinne wieder finden muss.

            Poul befand sich in einer Wüste. Er meinte, dass er sich in selbiger finden muss. Dass man in einer Wüste "Wasser" braucht, hatte er aber vergessen. So verdurstete er in seinem Wahn und debattierte mit Iris über Sinn und Zweck des Seins. Iris warf noch ein paar Klumpen "Charas", so nennt man Hash in Indien, und die beide begannen ihre Tour de Force ins Nebelland.

            In einer Nacht, es war passender Weise Vollmond und deshalb hatte ich mich dazu entschieden auf dem Dach zu schlafen, krachte etwas fürchterlich. Dazu Schreie der Angst.
            Poul hatt einen schlechten Trip und sah wohl irgendwie die Lodge als "Hölle" an. Er schmiss riesige Tontöpfe mit Pfanzen von der Ballustrade. Dazu schlug er sich mit den Wachleuten, welche ihn zu fünft nicht in den Griff bekamen. Einen hatte es ganz schön erwischt.
            Heike rannte auf mich zu, inzwischen waren auch andere oben aufgewacht, und schrie mich an. Ich solle mich um Poul kümmern und zwar schnell.
            Ich war wie gelähmt und hatte wirklich Schiss. Kann mich bis heute nicht daran erinnern, jemals so viel Angst verspürt zu haben. Ich kenn das Gefühl sich in die Hosen zu machen verdammt gut.
            Dennoch, Heikes Worte waren deutlich und sie begleitete mich. Das nahm etwas die verkrampfung und ich ging auf Poul zu. Der war damit beschäftigt, einen neuen Topf gen Erdgeschoss zu schmeissen.
            Ich hatte nichts im Kopf, keinen genialen Einfall, keine Worte, einfach nichts.
            Anstelle dessen nahm ich meine Prince-Zigaretten und hielt sie Poul hin.
            Lange Sekunden, kann ich euch sagen.

            Poul hielt inne und schaute mich an. In seinen Augen Wut und Angst. Als er mich sah, wollte er etwas sagen, dann aber erblickte er die Zigaretten. Er hatte Schmacht.
            Heute weiss ich, dass mein Instinkt sich einfach daran erinnerte, dass die Prince mein allererstes gesprächsthema mit Poul waren. Er war verwundert, Zigaretten aus der "Heimat" zu sehen.
            Heike gab ihm Kaugummi und Poul war glücklicherweise für uns glücklich!

            Etwas später, Iris und ein paar andere hatten inzwischen die Wachleute davon überzeugt, nicht weiter einzuschreiten, tranken wir Kaffee und rauchten Prince.
            Ich fragte irgendwann Poul, ob er mir vertraue und wir bauten eine gemeinsame Brücke raus aus seinem "Film".
            Ich schaffte es, dass er Valium nahm. Iris hatte genug davon. Ihr "Goa-Speed Bremser), wenigstens hier kam Iris zur Vernunft. Sie half auch dabei, Poul körperlich runter zu bringen. Sie hielt ihn die ganze Nacht in den Armen.

            Die nächsten 4 Tage verbrachten wir damit, das belgische Konsulat, welches es nicht gab, zu suchen. Es war das holländische, welches die Interessen belgischer Bürger vertrat.
            Bei diesem Marathon der Bürokratie lernte ich das US-Konsulat kennen. Hilfreiche und engagierte Menschen, kann ich mich erinnern, waren da. Sie halfen mit Medizin und Geld für eine Untersuchung bei einem Psychiater. Ohne jeglichen bürokratischen Aufwand. Eine einzige Unterschrift. Hut ab! Muss auch mal die USA loben!

            Poul wurde deutlich besser unter Haldol und Valium und flog in Begleitung von 2 netten Schweizern nach Hause. Das letzte Mal habe ich vor 6 Jahren von ihm gehört. Er soll gut zurecht sein.

            Von Poul zu Frank war es nicht weit.
            Frank erwähnte ich schon. Auch er war in einem Film, doch der hatte einen traurigen Ausgang. Davon nächstes Mal.

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              #7
              Vom Big Apple nach Calcutta


              Quelle

              Man stelle ich einen jungen Mann, so um die 25 vor. Der wohnte in einer der interessantesten Städte und langweilte sich.
              "New York drains you, it digests you" Das sagte Frank mir bei einem der vielen Sitins mit ihm.

              Ich lernte Frank ziemlich schnell in der Sudder Street kennen, denn er hatte etwas kostbares, und das waren seine Bücher. Undendlich viele und tolle Bücher. Meine besten SciFi-Bücher habe ich von ihm.
              Das Handeln mit Frank war lustig und ich genoß den Vorteil, dass er mich mochte. Brachte mir mehr als einmal Special Conditions beim feilschen.

              Es wurde so ein Ritual, dass Frank und ich uns abends zusammen setzten, starken Chay tranken und über die Welt sprachen. So war es eine Frage der Zeit, wann Frank seine Geschichte erzählen würde.

              Frank war ein waschechter New Yorker, in Brooklyn groß geworden und aus dem Sumpf in die glitzernden Wolkenkratzer nach Manhattan "gekrochen".
              Er hatte Architektur studiert, er hatte Ideen.
              So wollte er Kultur bringen und spezialisierte sich auf die Inneneinrichtung von Bars, Clubs und anderen Nightlife-Stätten. Er muss ziemlich gut gewesen sein, denn von einigen Clubs habe ich später gehört.

              Gleichzeitig langweilte sich Frank, wie eingehennd schon erwänht.
              Frank hatte zwar brilliante Ideen, aber er konnte nicht kommunizieren. Das sagte er jedenfalls und das war auch sein größter Irrtum. Ich habe all das von ihm erfahren, was ich hier schreibe.

              Na ja, Frank schmiss alles hin, schnappte sich seine Kohle und reiste nach Indien. Das war 1971 und so entkam er auch den Wirren rund um den Vietnam Krieg, Das schlimmste wäre der Einzug gewesen, bahauptete er.

              Frank hat das komplette Programm eines Austeigers hinter sich. Damals suchten alle nach der ultimativen Erfahrung des Seins im psychodelischen Rausch und Frank sprank mitten rein in das "Meer der Glückseligkeit".
              Gut bekam ihn das nicht. Irgendwann hairatete er eine Frau in Varanasi, trennte sich und floh vor dem aufgebrachten Familienclan nach Kalkutta.

              Irgendwas schlimmes muss Frank in Kalkutta passiert sein, denn er erzählte mir so gut wie nichts aus dieser Zeit. Das war immer ein Tabuthema und durfte nicht angesprochen werden.

              Frank wohnte nun inzwischen als 50 jähriger unter jungen Bagpackern aus der ganzen Welt und hatte für sich sein Refugium vor der schlimmen Welt gefunden. Ja, glücklich war er damals wirlich, dass muss ich wirklich eingestehen.

              Frank rauchte jede Menge Opium, in Kalkutta kannst du das an jeder Straßenecke. Es gibt auch für Touris solche Höhlen, mit Hängematten und Pepsi- oder Campa Cola.
              Die Rickscha-Puller brauchten diesen Stoff, um zu überleben bei ihren harten Job, die Touris als Schutzschirm vor ihren eigenen Albträumen.

              Frank hatte da wohl jede Menge von und musste das Zeug unentwegt intus haben. Er sagte mal, dass die Schutzgöttin Kali von Kalkutta schon lange ihr Urteil über ihn gefällt habe und er Kalkutta nicht lebend verlassen würde.
              Kali holt sich ihre Opfer, die Totenköpfe um ihren Hals und der abgeschnittene Kopf in ihrer einen Hand zeigen das deutlich.
              Ich sagte Frank mal, dass Kali aber auch Kraft gibt, man muss nur rechtzeitig verstehen, wann man diese Stadt zu verlassen habe und das man immer nur ein Gast und kein Einheimischer sein wird. Frank erwiderte, dass das richtig sei und ich daran denken solle, immer.
              Sogesehen hat er mir einen verdammt wertvollen Tipp gegeben und sich mit seinem Schicksal vertragen. Er war ein lieber Kerl.

              Frank starb irgendwann im Jahre 1998. Man fand ihn ertrunken in einer Straßenpfütze. R.I.P Frank!!

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                #8
                Golgatha in Kalkutta


                Quelle

                Charity heißt Barmherzigkeit und der Charity Orden von Mutter Theresa definiert diese in ganz neuen Perspektiven. Ich auf jeden Fall konnte diese Art von Barmherzigkeit dort nicht verstehen und verbinde eine meiner schlimmsten Erinnerungen mit dem Hospiz der "Sisters of Mercy" in Kalkutta.

                Bevor ich damals mich entschied, die Zeit in Kalkutta für etwas zu nutzen, was mich reifen lässt und die Welt etwas positiver zu sehen, lernte ich das Hospiz von Mutter Theresa kennen. Alle taten das, die in der Sudder Street ankamen.
                Ich weiss noch, dass man auf dem Weg dort hin direkt an einen der bekanntesten Temel der Göttin Kali vorbei kam. Wir gingen hinein, um auch etwas dort zu lassen. Ziemlich blutige Angelegenheit, wenn man sich diesen ort anschaut. Kacheln mit einer geronnenen Blutschicht, einmal im Monat wurde dort ein Schaf oder auch mal ein Wasserbüffel geschlachtet. Ansonsten hinterlassen die Leute dort hauptsächlich Blumenkränze und Eßwaren. Was für ein Kontrast, selbst die ganz armen Menschen brachten dort Nahrung hin. So ist das halt in Kalkutta, viele Gegensätze, aus unserer Sicht des materiell versorgten Teiles der Welt.

                Das Hospiz war in erster Linie ein Ort zum Sterben und...ja...und zum Leiden.
                Viele todkranke Obdachlose, die niedersten der Niedersten, auch Untouchables genannt, gingen zum Sterben in die Arme der Nonnen.
                Zu 20 in einem Saal, auf Liegen. Wenn man diese Räume betritt, schnürt es einem die Luft ab, das ist nicht übertrieben. Ich habe mich oft gefragt, ob man Sterben riechen kann, ja man kann es. Ein schwerer, süsslicher und beklemmender Geruch. Dennoch, viele Leute in Jeans und T-Shirts, viele Sprachen, und dazwischen die blauweiss gefärbten "Engel".
                Ich hatte einen guten Eindruck. Überhaupt, meine 18 Kilogramm an Medikamente und Verbandmaterial auf dem Rücken waren es wert gewesen, diesen weiten Weg mitzureisen. Dachte ich!

                Nun gut, wir machten uns mit den Leuten dort bekannt, man wies uns schnell ein paar Leute zu. Da wir vom Fach waren, bekamen wir die mit Infusionen und richtig schweren Wunden.
                Ich kümmerte mich um eine vielleicht 30 jährigen von Opium abhängigen Mann. Soviel ich weiss, hat er in einer Chemieküche gearbeitet. Nichts mit Bestimmungen für Sicherheit am Arbeitsplatz. Dieser Mann hatte kaum noch Lungen zum Atmen und seine Haut war übersäht mit Geschwüren. Seine Beine geschwollen wie längliche Ballons, ein eklatanter Widerspruch zu dem ausgedörrten schmächtigen Körper.
                Ich versorgte erst einmal die Wunden, öffnete meinen Rucksack und säuberte diese mit sterilem Material. Kurz darauf wurden mir die ganzen Materialien abgenommen. Wäre besser, wenn das koordiniert zugeteilt wird. Ah ja!

                Dann wollte ich mich nach einem Arzt erkundigen. Da dieser Mann eine Kochsalzlösung infundiert bekam und ich keine Aufschrift an der Flasche sehen konnte, welche Zusatzsmedis in der Lösung waren. Der Mann hatte unsägliche Schmerzen und in meinem Gepäck waren Unmengen an Schmerzmitteln, sowie Antibiotika.
                Einen Arzt gab es nicht, wohl aber eine Nonne, die mir erklärte, dass ich die Antibiotika in dieser und jener Menge zugeben könne. Die Schmerzmittel möge ich aber bitte nicht geben. Ich war mehr als baff!
                Ich hinterfragte noch einmal, schließlich konnte es auch ein Mißverständnis sein. Aber diese Schwester kam aus England und dementsprechend klar war sie zu verstehen. "No painkiller, we will not prevent this man from following Jesus passion, woun't we?"
                Also würde ich diesen Mann daran hindern, Jesu Leiden zu erleben auf seinem Weg ins nächste Leben, denn dieser Mann war ein Hindu. Ich fragte, was denn nun sei, wenn dieser Mann aber gar kein Bezug zu dieser Einstellung oder Glaubensfrage hat? Schließlich war er ja nun einmal ein Hindu und kein Katholik.
                Nun, das wäre hier nicht der Punkt und überhaupt, ich wäre doch nun zum Arbeiten hier und nicht zum Debattieren.

                Ich war sprachlos! Aber ich war nicht alleine. Es gab diverse Debatten im Saal. Eine junge Amerikanerin, sie studierte Medizin, weigerte sich unter diesen Bedingungen zu arbeiten.
                Mehrere Versuche, sachlich dieses Problem zu diskutieren, scheiterten am Betondogma dieser gnadenlosen Schwestern.

                Ich gab dem Mann dennoch seine Schmerzmittel. Heimlich, wie ein Verbrecher, musste ich sie in seinen Wasserbecher geben. das machte ich einige Tage so. Es half diesen Mann und er konnte sogar wieder lachen. Ich dröhnte ihn so zu, dass er sich auf das konzentrieren konnte, was für ihm wichtig war. Ich weiss es, denn er erzählte es mir.
                Er mochte diese Schwestern, schließlich waren es Nonnen. Er mochte diesen Ort, schließlich war er nah am Kali-Tempel. Das er nun keine Schmerzen mehr haben musste, war halt sein Karma, das ich auftauchte auch. Er hatte keine Wut, keinen Ärger. Er fügte sich und war dankbar. Ich beneidete diesen Mann!

                Er verstarb rasch. Nach 2 Wochen wurde ich dann zu "Sister Anne" zitiert.
                die hatte Wind davon bekommen, dass ich orale Schmerzmittel verteilte. Wer den Film "Sisters of Mercy" gesehen hat, möge sich an die Szene erinnern, wo eines der Heimmädchen gezüchtigt wird. Nicht ganz so, aber der Gesichtsausdruck von Sister Anne passte dazu. Sie schrie mich an, ich hätte hier keinen Zugang mehr. Sie würde sich überlegen, ob sie mich dem Zoll melden wolle. (Ich hatte eine Zollerklärung)
                Ich schüttelte nur den Kopf, wirklich, ich habe nichts gesagt. Traurig verließ ich diesen Ort.
                Das Golgatha in Kalkutta existiert, war mir bis dahin nicht bewusst.

                Ich verurteile nicht diese Schwestern. Ich verurteile die Engstirnigkeit von einer Religion, die sich anmaßt, Sterbende leiden zu lassen. Ich kann mich an keine Stelle der Bibel erinnern, soweit ich sie jedenfalls kenne, wo man im Namen Jesu leiden soll.

                Übrigens, mein Verbandsmaterial habe ich nach Abgabe nie wieder gesehen.
                Pinzetten, Scheren, Einmal-Skalpelle. Alles weg.
                Kompressen wurden immer aus sog. "Steri-Trommeln" an die Betten gestellt. Es waren unsterile indische Kompressen. Was der Orden mit den sehr wertvollen Material aus Berlin anstellte, weiss ich nicht, aber dass dieser Orden eine der reichsten ist, das weiss ich.

                Wird fortgesetzt...
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                  #9
                  Hilfreicher Schock

                  Soviel sei gesagt, dieser Bericht ist nicht unbedingt was für´s zarte Gemüt. Ich habe lange überlegt, ob ich dieses Erlebnis hier niederschreiben soll, kann...darf?
                  Ich versuche in meinen Reiseberichten, so authentisch und ehrlich zu schreiben, wie es im Erinnern für mich möglich ist.
                  Der nun folgende Bericht war einer von vielen einschneidenden in meinm Leben, wie eigentlich so viele während den Indienreisen. Dennoch ist dieser Part von besonderer Bedeutung. Er hat mit Leben und Tod, mit Balance und mit der Unsinnigkeit zu glauben, man kenne das Leben in seinem vollen Umfang.

                  Wie dem auch sei, ich denke, mit diesem Hinweis habe ich darauf verwiesen, dass es krasse "Bilder" hier geben wird. Nein, keine Sensationsgier soll hier aufgebaut werden. Wer nicht unbedingt schweren Stoff lesen will, der sollte diesen Bericht nicht lesen. Es folgen andere.



























                  Als ich letztens von den Bombenanschlägen in Mumbai (Bombay) hörte, musste ich zwangsläufig an unsere eine Zugfahrt denken. Wie nah etwas sein kann, was dich plötzlich aus den Träumen der Egopflege holt, wie schnell Rosa zu einem tiefen Schwarz wechseln kann.

                  Wir waren nach Calcutta wieder in Bombay angekommen. Eigentlich wollten wir nun auch mal etwas "Holiday" machen und erleben. Wir wussten nicht, ob wir nun nach Goa fahren, ein paar Full Moon Partys und einfach nur chillen wollten. Oder sollten wir doch ganz in den Süden nach Kochin in Kerala fahren?
                  Wir entschieden uns für den grünen Süden, was richtiger nicht sein konnte, wie wir bald erleben sollten.

                  Wir begannen unsere Zugreise an der großen Victoria-Station, ein Riesenbahnhof und unglaublich viele Menschen!
                  Witzig war, dass wir unsere Namen am Wagen wieder fanden, so wie uns der doch sehr zerstreut wirkende Bahnbeamte versicherte. Irgendwie wollte diese Überzeugung nicht so richtig auf uns überspringen. Sein PC war nur eine Dekoration mit viel Staub auf dem Schirm und unsere Reservierung landete auf einen kleinen schmierigen Zettel, mit abgekauten Bleistift geschrieben. Hinter dem Mann war ein Berg von Akten und ich war mir 100% sicher, dass diese Reservierung im Nirvanha verschwinden wird und nicht in Form einer sauber geschrieben Liste, welche ich mir fasziniert am Wagon durchlas. Sogar die für Inder sicherlich fremden Namen waren ohne Fehler geschrieben.

                  Wir betraten den Zug. Es war die 2. Klasse. Die berühmte "Holzklasse" gab es nur noch in vereinzelten Teilen Indiens. Die 2. Klasse war die für die Massen.
                  Geräumige Buchten mit jeweils 3 übereinander angeordneten Liegen und die Fenster vergittert. Man hatte immer ein wenig dieses "Im Käfig sitzen"-Gefühl, wenn an den Bahnhöfen die ganzen Verkäufer ihre Wahren durch die Stäbe reichten.
                  Der Zug setzte sich in Bewegung. Wir waren alle wirklich gut gelaunt. Toll, eine Zugfahrt, Menschen und die Gewissheit, dass das die nächsten 48 Stunden so sein wird. Wirklich, wir waren gut drauf.

                  Langsam rollte der Zug durch die nicht endenden wollenden Wohngebiete Bombays. Erst im Zug haben wir so richtig begriffen, wie groß dieser Moloch von Stadt ist.
                  Ich hatte mich in die offene Tür gesetzt, einen Chay in der Hand und schaute mit Erstaunen auf die endlosen Slums, welche sich bis zum fernen Horizont erstreckten. Nur die Hügel in der Ferne schienen dieses Meer der Armut einzudämmen. An den Gleisen liefen viele Kinder. Der Zug war nicht schnell, man konnte bequem mitlaufen. Eigentlich hätte man sogar aus- und wieder einsteigen können. Die Kinder lachten und schrien immer irgendwas. Ich konnte es nur schwer verstehen. Vermutlich war es der obligatorische Ruf nach einem Kugelschreiber. "Pen, Pen!!" Leider hatte ich keine, ich winkte ihnen zu, schüttelte den Kopf. Tat mir leid, aber in Kalkutta hatten wir an die 200 Pens gelassen und nun war leider Sense.
                  Einer der Jungen zeigte auf mich, glaubte ich jedenfalls, bis ich begriff, dass er kurz unter mir hinzeigte. Ich schaute hin und sah neben den Gleisen Säcke. Säcke, wie Müllsäcke. Es waren Menschen, tot und notdürftig abgedeckt. Einer, dann wieder einer, so alle paar Sekunden ein neuer. Bei einem der Körper war der Plastiksack verrutscht und ich sah einen Torso, wo der Kopf fehlte.

                  Wie soll ich beschreiben, was mit mir passierte?
                  Ich gefror innerlich, innerhalb eines Bruchteils von Sekunden. Es war, als würde mein Blut von einem Moment zu Eis und ich konnte mich nicht bewegen.
                  In meinem Hirn wabberte diese Bild vom kopflosen Torso, wie ein nicht endendes Echo. Ich verstand nicht, ich konnte nichts fühlen. Als wenn der Körper und der Geist einfach in eine Art "Not-Stand By" gingen. Manchmal glaube ich, dass so ein katatonischer Zustand beginnt.

                  Hinter mir fasste mir Heike auf die Schulter. Ich hätte sie am wenigsten erwartet, hatte sich doch zuvor ein Gespräch mit einem indischen Lehrer begonnen. Weit weg im Zug und ich saß an der Tür. Sie hat wirklich telepathische Fähigkeiten, dass weiss ich.
                  Sie nahm mich in den Arm und drehte mich weg von der Tür, ich begann zu weinen. Warum so was? Warum Menschen, ohne Köpfe, warum diese Erfahrung, warum Indien überhaupt?
                  Ich heulte Rotz und Wasser. So sicher, in Indien angekommen zu sein, anderen Newbies wohlwollend Hinweise geben, war ich zurück geschleudert. So fühlte ich es auf jeden Fall. All diese Menschen lagen dort, weil sie sich umbrachten. Sie wollten ihrem Karma entrinnen und begingen die im Hinduismus schändlichste Tat. Nach diesem Glauben, wird man als niederes Wesen, ein Hund z.B., wieder geboren, wenn man auf diese Art den "Ausgang" wählt.
                  Ich war am Anfang oder weit davor, ich kannte nichts von Indien, ich kannte nichts vom Leben.
                  Heike führte mich zu dem Lehrer, mit dem sie zuvor gesprochen hatte. Er war so um die 50, nett und sehr geduldig. Er hörte sich an, was mit mir los war und was ich gesehen habe.
                  Dann sagte er mir: "Was hält einen Menschen neugierig? Es ist die Akzeptanz von Dingen in der nicht bewertenden Haltung. Alles hat einen Sinn, auch wenn dieser sich nicht mit einem Begriff oder sonst was beschreiben lässt."
                  Er fügte hinzu, dass ich in mir reinhorchen sollte und ob ich dann nicht etwas hören würde, was mir Ruhe gibt.

                  Wie soll ich es beschreiben?
                  Dieser Mann machte mir plausibel, dass es ein Leben ohne Waagschalen nicht gibt. Böses umkreist das Gute und umgekehrt. Letztendlich ergänzen sie sich und tauschen durchaus auch mal die Rollen.
                  Wir waren auf einer Reise, in Kalkutta hatten wir eine der ersten Erfahrungen gemacht, welche uns allen gut getan haben. Man selbst ist wichtig, aber nur im Zusammenhang mit dem ganzen Bild und nicht nur im eigenen Spiegelbild. Das Zentrum ist genauso wichtig wie das Umfeld und beide bedingen einander.

                  In der Nacht, es war Vollmond, schaute ich lange auf die vorbeiziehende Landschaft, dachte daran, dass wir alle auf den Gleisen des Lebens fahren. Manchmal kommen Weichen, dann ruckelt es. Manchmal ganz schön doll. Doch die Reise geht weiter und das Ruckeln vermittelt einem, dass man in Bewegung ist und auch mal in andere Richtungen, als die erhofften fährt. Am Ende kommt man aber dennoch im grünen Kerala an. Die Sonne ist warm und ich denke an diese Menschen, welche sich neben die Gleise legten. Ich wünsche ihnen eine gute Fahrt, egal auf welchen neuen Gleisen sie reisen mögen.
                  Zuletzt geändert von EREIGNISHORIZONT; 19.08.2006, 14:41.
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