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Der Scheitel der Welt

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    Der Scheitel der Welt

    Der Scheitel der Welt

    eine Kurzgeschichte von Norpoleon IIme

    Der eisige Nordwind begann langsam aber sicher, meine Arme und Beine abzutrennen. Doch dem entkommen wir drei nicht für sehr lange Zeit. Wir waren schon viel zu weit entfernt vom Lager der Nordpolexpedition, die wir damals mit den anderen errichtet hatten; bevor es überrannt wurde von den Wilden hier. Ich darf nicht mehr über die rituellen Schlachtungen und den Ausdruck in den Gesichtern der Totschläger nachdenken. Diese ganze Reise, die ganze Idee war doch zum Scheitern verurteilt. Zu Hause, ja, da lässt sich so ein Abenteuer bequem planen. Im Warmen und mit unbeschränktem Zugang zu heißen Mahlzeiten, einem Bad, einem warmen Bett und Trinkwasser. Aber der Forscherdrang hat unsere Sinne vernebelt und uns blind gemacht für die möglichen Strapazen und Gefahren eines solchen "Abenteuers". Ein uraltes Geheimnis der Menschheit lockte uns, wie eine betörende Sirene. Was ist da am Nordpol, am Scheitel der Welt, wie sie sagen? Ein altes Piratenversteck, angeschwollen durch Reichtümer aus Jahrhunderten der Seeräuberei und des Schmuggels? Andere meinten, es wäre der Ort einer gewaltigen Tempelanlage, einer Ruine, die von vergangener Größe einer ganzen niedergegangenen Zivilisation erzählt. Was auch immer es sein mag, in dem Moment sah ich keine Möglichkleit, wie wir bald oder jemals unser Ziel hätten erreichen können.
    Nass, dreckig und angeschlagen vom Überfall, der nun schon – wieviele – Tage her war, es war schließlich das Land der Mitternachtssonne, klammerten wir uns an die Vision, dass Fortschreiten und Überleben möglich wäre.
    "Wir müssen weiter. Wir müssen weiter. Die Vormenschen sind überall!"
    Wer wir sind?

    Da ist der alte Curt, unser Smutje auf der Überfahrt. Ich glaube, er war vorher eine Art Kleriker oder Sanitäter. Vieles, was der vom Leben in Einsamkeit, vom Alter gebeugte Gutmensch sagte und tat, wies auf eine tiefe Religiosität hin. Doch konnte ich nicht genau bestimmen, welcher Kult es sein könnte, und aus Angst, einen für uns beide schmerzhaften Redeschwall auszulösen, habe ich ihn nie gefragt.
    Dann ist da unser einziger Kämpfer, ein Söldner, um genau zu sein, der überlebt hat: ein Mann, den wir nur als 'das Schwein' kennen. Warum ihn alle so nannten, mussten wir uns nicht erst fragen. Er redete nicht, sondern schrie nur unverständliche, schmerzverzerrte Laute. Seine Hände waren deformierte, hufähnliche Stumpen; er hatte sich einen neun Fuß langen Dreihänder an die rechte Hand gebunden, den er gegen die rechte Schulter gestützt mit sich führte. Außerdem hatte er wohl im Krieg seine Nase und Oberlippe eingebüßt. Sein Gesicht war für Menschen nicht mehr lesbar. Muss ich erwähnen, dass ich zwar froh war, dass dieser gediente Behemoth auf unserer Seite war, aber gleichzeitig wahnsinnige Angst vor dem Schwein hatte?
    Und dann bin da noch ich. Und ich bin nicht wichtig.
    "Hier, Liebes, ich habe ein paar wilde Kräuter und Wurzeln mit eingekocht. Das wird dich stärken; du verschwindest sonst vor unseren Augen.", sprach mir Curt mit seiner sanften, zaghaften Stimme zu und reichte mir eine Schüssel mit heißem Gerstenbrei, auf dem die letzten Reste unseres Specks trieben. Wir hatten ein kleines Lagerfeuer angefacht. Bei dieser Witterung verliert man viel Zeit bei der Suche nach geeignetem Feuerholz. Das Schwein brauchte keinen Zuspruch: der Hüne hielt einfach seinen Kopf in den Pott über dem Lagerfeuer und schlang alles hinunter, was auch nur in die Nähe seiner Gesichtsöffnung kam.
    "Gehen wir doch morgen weiter. Oder am besten wir geben sofort auf und suhlen uns einfach in der Idee, dass wir balod endlich tot sind.", entfuhr es mir, als wir auf einem Baumstumpf zusammensaßen. Obwohl wir keine einzige Stelle auf dem Erdboden finden konnten, die nicht nass war, verloren wir irgendwann erfolgreich das Bewusstsein und schliefen.
    Irgendwie gelang es uns, die nächsten Tage zu überleben und weiter in Richtung Norden zu wanken, den Nordlichtern folgend; erst durch finstere Nadelwälder, über ausgedehnte Tundren und schließlich durch eine Schlucht, so eng, dass wir uns meistens Schulter voran fortbewegen mussten.
    Das Ende war nah und endlich verließen wir den Gebirgsrücken und vor uns öffnete sich eine quälend weiße Eiswüste – weit und schier endlos. Der Horizont verschmolz unsichtbar mit der dichten Wolkendecke über uns.
    "Oh, nein.", stieß Curt erschöpft aus. "Es ist die zeitlose Ödnis! Ich las über diesen Ort in den Almanachen des Altertums. Sie ist keine Legende! Unsere Reise ist von einem Waldspaziergang zu einem Kriechen durch brennende Kohlen geworden." Und das war kein Scherz.
    Was sich da vor uns auftat, gleißend und durchsetzt von obskuren Wirbelphänomenen und Blasen und einen anderweltlichen Schimmer, war ein Ort, sehr nah an jeder Beschreibung einer Vorhölle, die ich jemals gehört. Diese Ebene hatte die arkane Eigenschaft, dass sich jede hier verlebte Stunde anfühlt, als müsste man Jahrhunderte durchleben.
    Wir verloren erst unser Gefühl für Zeit, dann – schlimmer noch – jedes Gefühl für Orientierung, dann jedes Gefühl für unseren Körper, unseren Verstand, unsere Welt. Wir lösten uns in dieser Zeit auf und lebten praktisch in einem unaufhörlichen Nexus aus zusammenhanglosen Phasen von Gesprächen, Gedanken, Gefühlen. Manchmal dachte ich, mir käme eine Idee in den Sinn, wiewir aus diesem Höllenschlund entfliehen könnten. Aber es war letztendlich immer nur ein "Ich sollte mal..." und dann war der Gedanke auch schon wieder weggeweht worden vom schneidenden Orkan des Nordens.
    Zu dieser einschneidenden Erfahrung gehörten auch die Zeitblasen. Es sind Gebilde, die durch die Einöde waberten, die uns Einblicke in unsere Vergangenheit zeigten. Obwohl, wir waren uns gar nicht mehr sicher, ob die Abbildungen nicht doch etwas völlig zufälliges waren, das nur aussah, als wäre es unsere Vergangenheit gewesen.
    Curt wurde gematert mit den Misshandlungen durch einen Priester des 'Das Eine'-Kults, bevor er endgültig in ein Leben hinter Klostermauern verdammt worden war. Besonders perfide war die Tatsache, dass ihm immer wieder der schmerzhafte Abschied von seiner geliebten Schwester gezeigt wurde; der Moment, bevor er sein Gelübde ablegen musste.
    Das Schwein wurde malträtiert mit Schlachtszenen aus den diversen Kriegen, in denen er gedient hatte: der Krieg unten in den Sümpfen des Gan, wo die Speere und Pfeile direkt aus dem Unterholz zu schnellen schienen; oder weite Karawanenmärsche durch die ausgedehnten Wüsten Ehebs und die Kriege gegen die Nomaden. Eine Begebenheit war besonders grausam: die Geburt des Schweins. Allein der Gedanke an diese Szene lässt mich wünschen, dass ich eines Tages dement sein werde, um nie wieder diese Bilder vor meinem geistigen Auge sehen zu müssen.
    Was ich in diesen Zeitblasen sah? Begebenheiten, die ich mir lange schon selber vorenthielt und gekonnt verdrängt hatte. Es waren die Bilder meiner Kindheit als Tochter eines armen Scherenschleifers, Bilder meiner Schuld und Bilder von Menschen, die einst mein Leben waren, aber schließlich wieder zu Fremden geworden sind.
    Du fragst dich jetzt sicher, wie man diesen Unort durchmisst, ihn überlebt. Die zeitlose Ödnis scheint, tatsächlich erschaffen worden zu sein, um die Menschen, die kühn genug sind einzutreten, zu testen, denn wir wurden auf magische Weise am Leben erhalten, ohne essen, trinken oder schlafen zu müssen. Wir betraten die Hölle und gingen einfach immer weiter und durchlebten Jahrtausende – den Verstand verlieren half ungemein - und erreichten die andere Seite.
    "Die Glasbank. Endlich.", stöhnte Curt; ich konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es Sarkasmus war oder er tatsächlich erleichtert war, die zeitlose Wüste verlassen zu haben.
    Die Glasbank ist ein Gebirge, das aus messerscharfen, gebrochenen Glaskristallen besteht. Das Material ist brüchig, glatt und scharfkantig. Ein Sturz hier hätte zur Folge gehabt, dass man von der nächsten spitzen Kante erdolcht worden wäre. Wir mussten uns also fortan sehr langsam und bedacht und in einer kräftezehrenden Hockposition fortbewegen. Unzählige Male rutschten wir ab und verletzten uns, schnitten uns an porösen Ecken, von denen immer etwas Glas absplitterte und stecken blieb. Manchmal verfing sich ein Fuß in einer Spalte und musste vorsichtig gedreht und gelockert werden, damit wir nicht noch mehr Blut verlieren würden. Der unbarmherzige Wind blies uns unentwegt feine Splitter ins Gesicht. Auf dem Weg durch diese Bluttäler fanden wir zur einzig wahren Religion auf dieser Welt: die Kirche des Überlebens. Und wir waren inzwischen eifrige Gläubige geworden.
    Am Horizont war eines Tages etwas anders: eine schwarze Säule ragte bis hinauf zum Pantheon. War es der Weltenbaum? Es war eine Struktur bei näherer Betrachtung. Etwas, das jemand erbaut hatte. Es war ein Turm.
    "Das ist es.", bemerkte Curt erleichtert, aber emotionslos.
    Wir hatten den Nordpol erreicht, daran gab es keinen Zweifel. Der Scheitel der Welt, von dem aus man nur in Richtung Süden blicken kann.
    Dem Turm vorgelagert war ein Tor unbekannter, aber zweifelsohne altertümlicher Bauart.
    In der Halle dahinter stießen wir auf den enormen Kadaver einer Kreatur. Ein Etwas, das wir nur aus den alten Märchen unserer Kindheit kannten: eine Zyklopendohle. Ein stachelbewehrtes, geflügeltes Ungetüm mit einem riesigen Auge, das mitten im ansonsten leeren Gesicht prangte. Das einzige, was wir in diesem Moment denken konnten war: "Essen!" Und so nahmen wir unsere Schwerter zur Hand und bewegten uns auf den Koloss zu.
    Es war wohl ein Stock oder Stein, der plötzlich ein lautes Echo durch die Halle jagte. Das gewaltige Auge war weit geöffnet und funkelte uns gierig an. Das Monstrum, obwohl von Natur aus schwerfällig, stieß sich geschwind mit seinen muskulösen Beinen vom glatt gefliesten Boden ab & ragte vor uns weit in die Höhe. Wir wussten, dass dies unser Todesurteil war. Obwohl: nur Curt und ich waren uns dessen gewahr, aber anscheind – glücklicherweise – kam dem Schwein kein solcher Gedanke in den Sinn. Er stieß einen markerschütternden Kriegsschrei aus und stürmte auf das Ungeheuer zu. Er legte sein enormes Gewicht in sein Schwert, das fast so lang war, wie Curt und ich übereinandergestellt, und das Schwein führte einen so gewichtigen Hieb aus, dass mir eine Welle aus aufgewirbeltem Staub entgegenflog. Der Angriff löste eine Panzerplatte von der Haut der Dohle und ihr tiefschwarzes, pulsierendes Muskelfleisch, knapp oberhalb des Herzmuskels, war sichtbar. Nie bekam ich je wieder geschwinder meinen asymmetrischen Langbogen zur Hand. Der erste Pfeil flog weit über den Kopf des Ungeziefers hinweg. Das Monster schrie und langte nach dem Schwein. Der zweite Pfeil traf das dicke Augenlid, als das Untier gerade blinzelte. Die Dohle hatte nun auch Curts Bein fest im Griff. Sie warf beide Männer wie Spielzeugsoldaten durch die Luft. Der dritte Pfeil durchschoss die Außenhaut der Hauptschlagader des geflügelten Dämons und mit einer Verzögerung konnte ich beobachten, wie die Erscheinung langsam, mit einem dünnen Strahl aus Lebenssaft ausblutete. Der Zyklop verlor die Kontrolle über seine Gliedmaßen und ließ meine Freunde fallen. Das Monster sackte allmählich in sich zusammen und hauchte lautstark seinen letzten Atem aus.
    Das Schwein und Curt waren gerettet, doch letzterer hatte einen üblen Bruch am rechten Oberarm.
    Auf das, was uns aber im Inneren des Turms erwartete, waren wir nicht vorbereitet. Keine Schätze. Keine alten Ruinen. Keine Erkenntnisse über die Vergangenheit des Menschen. Sehr wohl aber, verriet uns dieser Ort etwas über die mächtigsten ungöttlichen Wesen in der ganzen Welt von Eheb: der Turm war der Hort der farblosen Phantome, jene mythischen Wesen, die seit jeher in allen Erzählungen aller Epochen, Kulturen, Zivilisationen und Religionen auftauchen. Mal wurden sie als die Engel am Nachthimmel, mal als die Teufel der Erdhöhlen beschrieben; die, die immer da waren, und der Ursprung für Geschichten über Gestaltwandler, Trickster, Menschenfresser, Sumpfmonster und Wüstenstürme sind. Wie du haben wir immer gedacht, sie kämen aus einer anderen Welt; sind sie doch augenscheinlich gleichzeitig Kreatur und Automaton. Dieser Turm ist aber offensichtlich nicht die Heimat der farblosen Phantome, sondern ihre Brücke von unserer Welt Eheb zu ihrer Welt im Himmel. Sie nahmen kaum Notiz von uns und waren tief versunken in unaussprechlichen Ritualen und Gesängen, die unsere Wahrnehmung der Realität verzerrten. Das einzige, was wir an diesem Ort verstanden, war, dass wir hier höhere Kräfte gestört haben. Einer von ihnen kam auf uns zu und stieß uns in den Abgrund inmitten des Turms. Wir fielen und fielen und fielen durch Korridore absoluter Dunkelheit.
    Unweit des Lochs im Ozean, auf der anderen Seite der Welt, wurden wir an die Küste einer einsamen Insel gespült, wo uns irgendwann hilfsbereite Schmuggler, sowie wohlgesonnene Passatwinde in euer verschlafenes Küstenstädtchen brachten.
    Ich kenne diesen Ausdruck auf deinem Gesicht: es ist der Ausdruck des Unglaubens. Du denkst, eine solche Geschichte könne nur das Produkt von Trunkenheit, fortgeschrittener Syphilis und dem Bewusstsein, ein komplett verschwendetes Leben geführt zu haben, sein. Dann sieh dir das an! Das ist der Saum eines Phantomgewands. Sieh tief in die Fasern hinein, verliere dich in dem anderweltlichen Gewebe und lass mich meine Arbeit machen und deine Spelunke ausrauben.
    Zuletzt geändert von Norpoleon IIme; 17.07.2021, 20:02.

    #2
    Norpoleon IIme
    Normalerweise sage ich zur Art des Schreibens weniger, als zum Inhalt. Hier jedoch sprang mir eins gleich in Auge:
    Du beginnst den ersten Satz im Präteritum und schreibst gleich den zweiten Satz im Präsens, um mit dem dritten wieder ins Präteritum zu verfallen und im vierten Satz wieder Präsens zu verwenden usw.

    Dadurch liest sich die Geschichte, ganz unabhängig vom Inhalt, nicht wirklich gut. In meinem Fall war das der Grund, warum ich nach Satz 5 aufgehört habe. Die Geschichte würde einen besseren ersten Eindruck hinterlassen, wenn du dich für eine der beiden Zeitformen entscheiden, und konsequent dabei bleiben würdest.
    Ich mag Menschen... wenn es nicht zu viele sind. Laut dürfen sie auch nicht sein. Kleine Friedhöfe sind schön.

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      #3
      Die meisten Kritikpunkte aus dem anderen Forum haben es offensichtlich nicht in Deinen Text geschafft ...
      Heaven is where the police are British, the chefs are Italian, the mechanics German, the lovers French and it all is organized by the Swiss.
      Hell is where the police are German, the chefs are British, the mechanics french and the lovers are Swiss and it all is organized by the Italians.

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        #4
        Ich fand die Kurzgeschichte interessant, erinnerte mich bisweilen etwas an Lovecraft! Über Grammatik kann ich schlecht schreiben, da bin ich selber noch Schüler, aber Du scheinst über einen großen Wortschatz zu verfügen und das gefällt mir. Du lässt das schön in Deine ungewöhnliche Geschichte einfließen. Schön waren auch Deine Beschreibungen der Personen, Deine verschriftlichten Vermutungen über die Begleiter. Ich würde auch eine weitere Geschichte gerne lesen, oder eine Fortsetzung?
        Entgegen der um sich greifenden Legendenbildung habe ich mein "altes" Forum nicht freiwillig verlassen! Tragischerweise muss man nun feststellen, dass es dieses Forum nicht mehr gibt! Warum wohl nicht? ;)

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