Der 20.7. und der Widerstand um Stauffenberg - SciFi-Forum

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Der 20.7. und der Widerstand um Stauffenberg

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    #16
    Was die Frage des Widerstandes von Deutschen gegen die Nazis anbetrifft oder die Frage, warum "die" Deutschen (damit meine ich die Bevölkerungsmehrheit ) es nicht schafften, Hitler zu beseitigen, ist doch etwas teifgreifender zu betrachten.
    Es gibt hier eine ganze Reihe von Faktoren, die zusammentrafen. Ganz sicherlich lag es aber nicht allein daran, dass die Deutschen Hitler wie Schafe in den Untergang gefolgt seien. Wer hier den Schwerpunkt auf diese Betrachtung legt, hängt doch eher Klischees nach. Eine detaillierte Betrachtung zeigt deutlich, wie kurz dieses Erklärungsmuster doch greift.
    Ich nenne mal ein paar Faktoren, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen.
    Generell kann man wohl sagen, dass "die" Deutschen bis ca. Ende 1942 bereitwillig ihrer Führung folgten, weil es bis dahin ja eigentlich noch voran ging (eigentlich nicht, aber wer wusste das schon?).

    1. 1943 kippte die Stimmung langsam um, als die Verlustzahlen immer höher wurden. Gleichzeitig nahm aber auch die Tätigkeit der Verfolgung von Kriegsgegnern immens zu. Es stand mittlerweile auf eine ganze Reihe von "Delikten" die Todesstrafe und von dieser wurde auch sehr eindeutig Gebrauch gemacht.
    Eine einzige Äußerung konnte ausreichen, um jemanden hinter Gitter oder um das Leben zu bringen. Und hiervon wurde auch eifrig Gebrauch gemacht. Wer auch nur im Verdacht stand, die weiße Fahne zu hissen oder wer auch nur Witze über Hitler machte, hatte mit der schnelleren oder langsameren Hinrichtung zu retten. Dieser Verfolgungsdruck ist nicht zu unterschätzen.

    2. Die Machthaber fürchteten zu dieser Zeit kaum etwas derart wie einen zweiten "November 1918" und taten alles, um die Heimatfront ruhig zu halten (Details unter 1.) Bis noch in den Krieg hinein gab es zwar mehr Nischen für Nichtkonforme, als man denken mag, aber diese nahmen immer stärker ab.

    3. Viele Menschen, insb. in den großen Städten und Ballungszentren, waren in erster Linie mit dem puren Überleben beschäftigt. Aber hier hätte ein Aufstand seinen Anfang nehmen müssen.

    4. Eine radikale antikommunistische Propaganda schürte extreme Angst davor, was "der Iwan" mit den besiegten Deutschen anstellen würde. Also hielt man durch. Verstärkend wirkte hier der Glaube an die Wunderwaffen.

    5. "Die" Deutschen waren keine einheitliche Masse. Thomas Mann hat in einer Rede der BBC einmal gesagt, die Naziführer würden alles tun, möglichst viele Personen in ihre Verbrechen zu verwickeln, um ihnen dann zu sagen "Schaut mal, ihr steht mit uns auf dem Schafott, deswegen müsst ihr kämpfen, um uns zu retten, damit ihr auch gerettet werdet. Hängen wir, seid IHR die nächsten." Daran ist durchaus etwas dran, denn den lokalen Entscheidungsträgern war klar, dass ihnen bei einer Niederlage nichts Gutes blühen würde (siehe auch 4. ). Widerstand konnte sich also schon aus dem Grunde in Deutschland nur sehr schwer organisieren, weil man eben nicht wusste, wie der potentielle Mitkämpfer nun tatsächlich reagieren würde. Die hohe Anzahl an Selbstmorden gegen Ende des "Dritten Reiches" und des Krieges ist hierfür ein guter Beleg.

    6. Wie max schon sagte, fehlte es auch an Köpfen, da sich die Reihen der politisch Aktiven doch recht gelichtet hatten.

    Natürlich gibt es für alle Punkte auch Ausnahmen, aber dennoch blieben Tendenzen zum Widerstand einfach zu schwach.


    Was die Einsicht der Beteiligten des 20. Juli anbetrifft, so denke ich, dass man hier die einzelnen Gründe und Motive nicht so scharf voneinander trennen sollte. Es ist wohl eher so, dass viele Faktoren und Erlebnisse der Betroffenen zusammentrafen, die dann zu dem Entschluss des Attentats geführt haben.
    Wenn es stetig in ein Fass hineinregnet, wie will man sagen, welcher Tropfen das Fass zum Überlaufen brachte? [Sicherlich regnete es immer stärker, je schlechter der Krieg lief, das ist wohl wahr. ]
    Dieser Entschluss, Hitler zu töten, war jedoch ein eindeutiger. Ich glaube nicht, dass sich die Attentäter selbst darüber Gedanken gemacht haben, welcher Teilaspekt ihnen relevanter erschien, sondern ich vermute eher, dass die Teilaspekte situativ und individuell verschieden gewertet wurden, aber immer auf dasselbe Hinausliefen, was dann ohnehin mehr Raum im Denken in Anspruch nahm, als die Gründe.
    Dann waren die meisten, wie ich schrieb, "unpolitisch". "Unpolitisch" wiederum bedeutete vor dem Ende des WW2 und insbesondere in der Zwischenkriegszeit nicht einfach nur das Gegenteil von "politisch", sondern war eine Lebenseinstellung, die konservativ gestützt, auf einer idealisiertem "Deutschtums"-Vorstellung und der Ablehnung der "undeutschen" Erfindungen wie Parlamentarismus und Sozialismus basierte. [das ist schwer zu beschreiben, Thomas Mann brauchte dafür 700 Seiten, also nicht über meine Definition nörgeln]
    Man definierte sich über idealisierte Gemeinplätze wie "das Recht", das "Reich" und "Anständigkeit" etc. Die Wiederherstellung "des Rechtes" war ein Ziel der Beteiligten und dazu zählt natürlich auch die Beendigung des Holocaust und die Auflösung der Konzentrationslager. Und wenn man "das Reich retten" wollte, dann gehörte dazu natürlich auch die Verhinderung weiteren Sterbens und damit auch die Rettung von Menschenleben. Ansonsten nehmen Militärs natürlich generell schon in Kauf, dass in einem Krieg Menschen sterben, denn sonst hätten sie ja einen anderen Beruf gewählt, da hast du schon ganz Recht, Xion. Naja, und darüberhinaus hat das Militär in Deutschland ja in der Geschichte eher selten Friedenspolitik betrieben.
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      #17
      Zitat von endar
      [...}
      Man definierte sich über idealisierte Gemeinplätze wie "das Recht", das "Reich" und "Anständigkeit" etc. Die Wiederherstellung "des Rechtes" war ein Ziel der Beteiligten und dazu zählt natürlich auch die Beendigung des Holocaust und die Auflösung der Konzentrationslager.
      [...]
      Ich finde all Deine aufgezählten Punkte schlüssig, keine Frage. Scheinst diesbezüglich gut auszukennen und bist auch in der Lage, dein Wissen verständlich zu vermitteln.

      Womit ich allerdings nicht so recht klar komme, ist deine o.g. Ausführung.

      Sicherlich definierte man sich über idealisierte Gemeinplätze wie "Recht" und "das Reich" usw, aber fiel unter dem damaligen Rechtsbewusstsein tatsächlich auch der Aspekt, dass alle Menschen gleich sind und dass es keine Ausgrenzungen geben darf, egal wie die aussehen?
      Herrschte nicht trotz allgemeiner Verbitterung gegenüber Hitler bei Kriegsende auch der Glauben daran, dass "minderwertige" Menschen nicht die gleichen Rechte haben können?

      Vielleicht hätte der Holocaust ein Ende gefunden aus Gründen der dann neuen Politik gegenüber dem Westen, aber die Vorbehalte gegenüber dem "Ivan" und den "immer geldgierigen" Juden hätten meiner Meinung nach nicht an Boden verloren, zumal letztgenanntes ja teilweise heute noch so gesehen wird.
      Dieses hätte sicherlich dazu geführt, dass man die Vertreibung weiterhin in Kauf genommen hätte und der Alltag sicherlich kein rosiger für Minderheiten gewesen wäre.

      Sicherlich liegt vieles im Reich der Spekulationen und es wäre in vielen Punkten wohl auch müßig, darüber zu spekulieren wie ein Deutschland geseelschaftspolitisch nach einem erfolgreichen Putsch ausgesehen hätte, aber die Werte, welche wir heute in uns tragen, damit meine ich die Sensibilität gegenüber Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung, wären damals sicherlich nicht in diesem Kontext zum Tragen gekommen.

      In einem Land, welches sich einst mit seinerm Preussentum dafür rühmte, anständig zu sein und Würde zu tragen, war es über Jahre lang möglich Millionen von Menschen umzubringen und das Militär hat zugesehen dabei. Ich will und kann nicht galuben, dass trotz Spezialeinheiten wie SS es nicht die Möglichkeiten schon vorher gegeben hätte, diesen Diktator zu beseitigen. Also ist davon auszugehen meiner Meinung nach, dass die Interessen von Mitgleidern in Führungskreisen des Militärs gedeckt schienen und die meisten keinerlei ethischen Grund sahen, da einzugreifen. Sicherlich hat es Menschen gegeben, die sich nicht damit abfinden wollten, aber die meisten davon hatten das Land doch eh schon verlassen.

      Übrigens habe ich mal gehört, dass Hitler durchaus daran interessiert war, dass Intellektuelle aus Kunst und Kultur ungehindert das Land verlassen können. Also schien er in diesen Personen doch eine reale Gefahr gegen sich zu sehen und nicht in Personen des Militärs.
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        #18
        @EH: Du sprichst hier eine Reihe von Dingen an, die sehr vielschichtig und komplex sind und über jeden Einzelaspekt müsste man einen doch recht langen Beitrag mit vielen Verweisen schreiben. Ich antworte mal etwas kürzer, muss dabei aber einiges auch weglassen.

        Sicherlich definierte man sich über idealisierte Gemeinplätze wie "Recht" und "das Reich" usw, aber fiel unter dem damaligen Rechtsbewusstsein tatsächlich auch der Aspekt, dass alle Menschen gleich sind und dass es keine Ausgrenzungen geben darf, egal wie die aussehen?
        Herrschte nicht trotz allgemeiner Verbitterung gegenüber Hitler bei Kriegsende auch der Glauben daran, dass "minderwertige" Menschen nicht die gleichen Rechte haben können?
        Es ist hier in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass sich diese Bevölkerungsschicht, aus der die Attentäter vornehmlich stammten, als eine Art Elite sahen. Vornehmlich Militärs, sahen sie ja z.B. die Armee als die Schule der Nation an und sie waren es aus dem Kaiserreich gewohnt, dass "der Offizier" als solcher als Vorbild galt. Nicht umsonst sagte ja Willy Brandt in seiner vielbeachteten Regierungserklärung, die erste Schule der Nation sei immer noch die Schule (und nicht das Militär).
        An der prinzipiellen Rechtsgleichheit hätten sie sicherlich nicht gerüttelt, wohl aber haben sie wohl das Bewusstsein gehabt, sie seien "etwas gleicher" als die anderen. Ausgrenzungsmaßnahmen gegen Minderheiten, wie die antijüdische Gesetzgebung, hätte es mit ihnen aber nicht gegeben.
        Es wäre stattdessen weiter so gegangen, wie es auch vor 1933 lief, wo man Juden (in den allermeisten Fällen) einfach nicht zum Militär zuließ und wo eine allgemein verbreitete "Diskriminierungsfreude" schon verhinderte, dass "solche Leute" in wichtige Positionen gekommen wären. Das bedeutete aber nicht, dass man "diesen Leuten" nach dem Leben getrachtet hätte oder dass man sie hätte vertreiben wollen.

        Vielleicht hätte der Holocaust ein Ende gefunden aus Gründen der dann neuen Politik gegenüber dem Westen, aber die Vorbehalte gegenüber dem "Ivan" und den "immer geldgierigen" Juden hätten meiner Meinung nach nicht an Boden verloren, zumal letztgenanntes ja teilweise heute noch so gesehen wird.
        Dieses hätte sicherlich dazu geführt, dass man die Vertreibung weiterhin in Kauf genommen hätte und der Alltag sicherlich kein rosiger für Minderheiten gewesen wäre.
        Wie ich geschrieben habe: Man darf nicht zuviel verlangen, sondern muss bei der historischen Betrachtung immer im Kopf behalten von wo die Menschen kamen und bis wie weit sie hätten gehen können. Und den Ostelbiern war der Antisemitismus schon eine Integrationsklammer. Aber nicht nur unter ihnen: Selbst Thomas Mann notierte 1933 in sein Tagebuch, dass das Herausdrängen der Juden aus dem öffentlichen Leben gar nicht mal so schlecht wäre.
        Die "Ausrottung des Marxismus und Pazifismus mit Stumpf und Stiel" fanden die Miltärs hingegen schon klasse, wobei sie aber auch hier nicht an Konzentrationslager dachten, sondern vielleicht eher an etwas vom Kaliber wie das Sozialistengesetz o.ä..

        In einem Land, welches sich einst mit seinerm Preussentum dafür rühmte, anständig zu sein und Würde zu tragen, war es über Jahre lang möglich Millionen von Menschen umzubringen und das Militär hat zugesehen dabei. Ich will und kann nicht galuben, dass trotz Spezialeinheiten wie SS es nicht die Möglichkeiten schon vorher gegeben hätte, diesen Diktator zu beseitigen. Also ist davon auszugehen meiner Meinung nach, dass die Interessen von Mitgliedern in Führungskreisen des Militärs gedeckt schienen und die meisten keinerlei ethischen Grund sahen, da einzugreifen. Sicherlich hat es Menschen gegeben, die sich nicht damit abfinden wollten, aber die meisten davon hatten das Land doch eh schon verlassen.
        Ja, wie ich in meiner Metapher schrieb: Es regnete gegen Ende des Krieges schon etwas stärker ins Fass hinein als zu Anfang. Zuvor, insb. vor 1939 gab es weitgehende Interessensgleichheit zwischen den Militärs und der Naziführung. Viel mehr noch: Mittlerweile wird gar in Frage gestellt, ob Hilter die Militärs wirklich für seinen Krieg benutzte oder ob nicht die Militärs nicht Hitler vor 1939 benutzt hätten, weil sie ebensfalls den Krieg wollten.
        Die Pläne zur Aufrüstung fanden sich schließlich seit 1923 in den Schubladen des späteren Wehrmachtsamtes. Bei passenden Gelegenheiten, wie der Ermordung der SA-Spitze um Röhm am 30. Juni 1934 beteiligte sich die Reichswehr sogar aktiv an den Morden.

        Die Westmächte hätten sicherlich keine gemeinsame Aktion mit der Truppe Stauffenberg/Goerdeler gegen die Sowjetunion durchgeführt.
        Dazu wären weder die amerikanische noch die britische Regierung bereit gewesen - temporär erschien die SU doch als ein besserer Partner und hätte den Teufel getan, die Bindung zur SU aufzulösen (und hier einen weiteren Krieg zu riskieren), um sich mit einer Gruppe von undurchschaubaren Individuen einzulassen.
        Man hätte also weiterhin auf der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands bestanden und der Unterschied wäre nur der Zeitpunkt gewesen: August 1944 gegen Mai 1945.
        Es wäre darüber hinaus sicherlich genauso zu einer Teilung Deutschlands und zum Verlust der Ostgebiete gekommen, wie es dann 1945 der Fall war. Die Sympathien gegen Deutschland waren 1944 schließlich längst aufgebraucht und Morgenthaus Plan von der Zerstücklung und Agarisierung Deutschlands war kein Scherz.

        Übrigens habe ich mal gehört, dass Hitler durchaus daran interessiert war, dass Intellektuelle aus Kunst und Kultur ungehindert das Land verlassen können. Also schien er in diesen Personen doch eine reale Gefahr gegen sich zu sehen und nicht in Personen des Militärs.
        Naja, dieser Feststellung liegt die Überlegung zugrunde, der Holocaust sei bereits 1933 geplant gewesen und das glaube ich weniger. Wenn NS-Gegner in der Frühzeit des Regimes das Land verlassen konnten, ist der Grund dafür eher in DEM Umstand zu sehen, dass ihnen die Ausreise NOCH nicht verboten worden war.
        In Fragen der "Judenpolitik" verfolgte das Regime zudem am Anfang noch die Politik, die Juden zu vertreiben, was übrigens sogar 1939 noch der Fall war. Diese Dinge haben sich in einer zunehmenden und sich immer weiter verstärkenden Radikalisierung des NS-Regimes erst langsam entwickelt.
        Die landläufige Meinung schiebt diese Dinge dabei gerne Himmler, Hitler und Heydrich etc. in die Schuhe, weil es bequemer ist, zu sagen, eine Horde von Irren habe das alles gemacht und "die" Deutschen hätten damit gar nichts zu tun gehabt. Man vergisst dabei, dass Hitler (als Person) z.B. weder vom Boykott vom 1.4.1933, noch von der "Reichskristallnacht" 1938 sonderlich begeistert gewesen war und dass er "diese Dinge" (aus Gründen der politischen Räson mit Blick auf das Ausland) nicht wünschte.
        Der Boykott vom 1. April z.B. war eher ein Zugeständnis an die radikalisierte und dynamische Basis der NS-Bewegung, wie die SA. Insbesondere zu diesem Punkt, der Dynamik der NS-Bewegung, der Entwicklung der Verfolgung und der Stellung der Bevölkerungsmehrheit zu dieser Entwicklung wäre noch eine ganze Menge zu sagen, vielleicht schreibe ich heute oder morgen noch mehr dazu.

        Und danke für das Kompliment.
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          #19
          Noch mal ein kleiner Nachsatz zum "Unpolitischen" (und warum Thomas Mann in diesem Zusammenhang immer wieder auftaucht. ).

          Das "Unpolitische" (die Beschränkung der eigenen Tat auf das Expertentum) und mehr noch das "Warten auf das Dritte Reich" waren (obwohl wir das heute durchaus als "politisch" begreifen) in der damaligen Wahrnehmung eher mystische Vorstellungen, wie man z.B. den Arbeiten Autoren wie Möller van den Bruck und anderen rechts-konservativen Publizisten entnehmen kann. Und das "Reich" bzw. das "Dritte Reich" war dann ein menschlicher Idealzustand (für die Deutschen). Fragen, ob und wie z.B. strafrechtlich gegen "Linke" vorgegangen werden sollte, waren viel zu profan, um ernsthaft tiefgehend erörtert zu werden. Im "Dritten Reich" hätte es sowas ohnehin nicht gegeben, weil die Deutschen "sowas" hinter sich gelassen hätten.
          Das dann wirklich entstehende neue Staatsgebilde unter den Nazis bediente sich geschickt dieser Vorstellungen. Ursprüngliche Vorstellungen des "Dritten Reiches" hatten jedoch mit der Wirklichkeit der NS-Herrschaft nicht viel gemein.
          "Unpolitischer" Konservativismus war mehr eine emotionale Sache, denn eine Sache des Verstandes.

          Thomas Mann hat im WW1 noch einmal das konservative Weltbild der Zeit bis 1914 in einem Werk zusammengefasst (Bekenntnisse eines Unpolitischen), entwickelte sich nach 1919 über das Stadium eines Vernunftdemokraten zu einem Überzeugungstäter, der schlussendlich sogar für die BBC sprach. Er nahm damit die Entwicklung des deutschen Konservatismus nach 1945 vorweg und durchlebte dasselbe bereits nach dem Ersten Weltkrieg.
          Hier spielt dann auch die totale Niederlage wieder eine Rolle. Erst sie - die Stunde Null - entfremdete viele Konservative von ihrer gestrigen Sicht und ermöglichte ein Hereinwachsen in die demokratische Staatsform: eine Hereinwachsen, das durchaus lange dauerte und nicht bei jedem völlig zum Erfolg führte (Strauss wurde ja oft auch als "Zwangsdemokrat" bezeichnet). Aber sie sahen, dass ihr alter Weg in die Sackgasse geführt hatte und gingen neue Wege (auch hier spielte der Antikommunismus wieder eine gewisse unterstützende Rolle)
          Die nachfolgenden Generationen der Konservativen haben sich ja dann gut in den demokratischen Staat einfügen können. Daher kommt es übrigens auch, dass Angela Merkel so tun darf, als hätte die CDU ganz allein die Demokratie in Westdeutschland erfunden und durchgesetzt. Aber das ist wiederum eine andere Frage.
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            #20
            @endar: Warum meinst du, dass die Mehrheit der Deutschen vor 1942 der Regierung folgten und nicht einfach durch den Terror desorientiert und unorganisiert waren? Der Widerstand der Arbeiterbewegung hatte ja in den ersten Jahren und zu Beginn des Kriegs einen Hoehepunkt.

            Und worauf stuetzen sich die Anhaenger der Theorie, dass es nach dem Krieg eine Diktatur gebraucht haette, weil die Deutschen demokratieunerfahren waren? Schliesslich gab es durchaus z.B. direkt nach dem Krieg eine deutliche Stimmung fuer den Sozialismus, womit keine Diktatur wie die DDR oder UdSSR gemeint war, sondern ein demokratisches System?
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              #21
              Zitat von max
              @endar: Warum meinst du, dass die Mehrheit der Deutschen vor 1942 der Regierung folgten und nicht einfach durch den Terror desorientiert und unorganisiert waren?
              Welcher Terror denn? [mal ganz provokant gefragt ]
              Den meisten Deutschen, die sowohl unpolitisch waren, wie auch ansonsten nicht aus anderen Gründen in die Verfolgungsmaschinierie der Nazis gerieten, ging es sehr gut und vielen ging es bis 1939 besser als jemals zuvor.
              Es herrschte annähernde Vollbeschäftigung, man "war wieder wer" und dann, 1940, hat man mal eben so nebenbei Frankreich überrannt. Das kam schon gut an bei den Leuten.
              Naja, und was zu Beginn der NS-Herrschaft den Linken passierte, das hielt man für Anfangswehwehchen, die dann aber schon vorbeigehen würden. Sicher ärgerte man sich über die SA, aber das war ja dank des Eingreifens des "Führers" Mitte 1934 auch vorbei. Und ab da ging es den meisten Leuten gut bzw. besser.

              Die Loslösung vom Nationalsozialismus begann erst in einer Zeit, als es nicht mehr so gut lief, als die Familien reihenweise Opfer von der Ostfront zu beklagen hatten oder die Bombenangriffe begannen.
              Man kann dies an vielen Punkten festmachen, bzw. findet deutliche Verweise in ganz verschiedenen Sorten von Quellen: Da wären die Stimmungsberichte der Gestapo und Äußerungen in Leumundszeugnissen in Entnazifizierungsakten (die, gegen den Strich gebürstet, sehr viel über die Stimmung der Bevölkerung in verschiedenen Jahren verraten). Man sieht dies auch in den nach 1945 begonnenen Ermittlungsverfahren wegen Denunziationen, die sich zum allerüberwiegenden Teil um Denunziationen zwischen 1943 und 1945 drehten.

              Der Widerstand der Arbeiterbewegung hatte ja in den ersten Jahren und zu Beginn des Kriegs einen Hoehepunkt.
              Das mag so sein, aber du solltest das nicht mit der Bevölkerungsmehrheit verwechseln.
              Auch Arbeiter erfreuten sich am Abbau der Arbeitslosigkeit, den außenpolitischen Erfolgen. Einige wenige schipperten mit der KdF-Wilhelm Gustloff lustig durch die Meere. Die meisten Arbeiter waren zwar nicht für den Nationalsozialismus zu gewinnen, aber das reichte aus, sie ruhigzustellen.

              Und worauf stuetzen sich die Anhaenger der Theorie, dass es nach dem Krieg eine Diktatur gebraucht haette, weil die Deutschen demokratieunerfahren waren?
              Das würde ich auch gerne wissen.
              Aus den Quellen geht nur wenig (bzw. gar nichts) hervor, dass in diese Richtung weist. Die Angehörigen des Kreisauer Kreises waren zwar der Demokratie gegenüber reserviert eingestellt, aber dies basierte im wesentlichen auf der historischen Erfahrung der Weimarer Republik.
              Sie erstrebten daher einen Neuaufbau von unten nach oben und präferierten ein Wahlmännersystem, wie es auch in der USA zu finden ist. Die politischen Repräsentanten des Reiches sollten indirekt gewählt werden. Das Reich sollte sowohl eine föderative Struktur erhalten, dennoch eine starke Führung haben.
              Man darf nicht vergessen, dass dies alles Entwürfe waren, die, wenn sie umgesetzt worden wären, Anpassungen nach sich gezogen hätten. (Soviel in aller Kürze dazu, auch wenn es teilw. etwas arg grob ist.)

              Schliesslich gab es durchaus z.B. direkt nach dem Krieg eine deutliche Stimmung fuer den Sozialismus, womit keine Diktatur wie die DDR oder UdSSR gemeint war, sondern ein demokratisches System?
              Das ist richtig, aber man darf das wohl auch nicht überbewerten.
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                #22
                Mich würde mal interessieren, wie die unterdrückten Parteien (SPD) gegenüber der Widerstandspläne standen, falls es überhaupt Wissende in diesen Kreisen gab. Gibt es dazu irgendwelche Fakten?
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                  #23
                  Wenn man sich den Kreisauer Kreis ansieht, so umfasste dieser ca. 40 Leute mit verschiedenem Hintergrund, unter dem sich auch Sozialdemorakten wie Julius Leber oder Adolf Reichwein befanden. Ersterer hatte übrigens auch Kontakte zu kommunistischen Widerstandskämpfern hergestellt.

                  Es ist hier also durchaus ein die alten Gegensätze überwindender Zusammenhalt eingetreten, auch wenn der Kreisauer Kreis im Ganzen antikommunistisch blieb.
                  Einige seiner Vorstellungen sind ja nach 1945 umgesetzt worden. Auch Ludwig Erhardt stand mit dem Kreis (in weiterer) Verbindung. Der Europagedanke z.B. wurde ja nach 1945 zu einer Grundlage der Politik, die Skepsis gegenüber der direkten Demokratie wurde von der Verfassungsgebenden Versammlung geteilt.
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                    #24
                    Zitat von endar
                    Welcher Terror denn?
                    Wie wäre es z.B. mit den KZs? Schliesslich wurde diese anfangs fast ausschliesslich mit politischen Gegner der Nazis - in der deutlichen Mehrheit Mitglieder der Arbeiterbewegung - bevölkert.
                    Zitat von endar
                    Den meisten Deutschen, die sowohl unpolitisch waren, wie auch ansonsten nicht aus anderen Gründen in die Verfolgungsmaschinierie der Nazis gerieten, ging es sehr gut und vielen ging es bis 1939 besser als jemals zuvor.
                    Waren sie wirklich unpolitisch? In der Zeit vor 1933 sicher nicht, die wohl eher zu den Zeiten gehört, in der die Menschen am meisten politisiert waren. Man muss sich doch eines klar machen, dass Menschen, deren politischen Organisationen zerschlagen wurde, viele Genossen ermordet und inhaftiert wurden und auch die Untergrundorganisationen immer wieder zerschlagen wurden, voneinander isoliert werden und damit politisch inaktiv werden. Dazu kommt ja noch das Spitzelsystem, was diese Isolierung noch verstärkte. Menschen, die eine vernichtende politische Niederlage erlebt haben, können natürlich auch unter diesen Umständen tatsächlich im gewissen Umfang unpolitisch werden - aber dies darf nicht mit einer Zustimmung zu den Nazis verwechselt werden, sondern erklärt nur, warum der Widerstand zu gering ausfiel. In Italien war zu Beginn des Faschismus die Entwicklung ähnlich und es gab erst sehr spät im grösseren Umfang Widerstand.

                    'Unpolitisch' gehört meiner Meinung nach zu den Legenden der Nachkriegszeit. Damals hatten von der KPD bis zur Union alle Parteien ein Interesse daran, von ihren politischen Fehlern (SPD, KPD) oder Unterstützung für die Nazis (die Mehrheit der bürgerlichen Politiker) abzulenken. Die einzige Parteien, die eine halbwegs vernünftige Analyse der damaligen Ereignisse hatten und keine grösseren Fehler machten, waren die KPO und die SAP. Aber diese konnten sich gegen die grösseren Arbeiterparteien (SPD, KPD) nicht durchsetzen, weshalb die Nazis bei ihrer Machtübernahme kaum auf organisierten Widerstand stiessen.

                    Ergebnis davon ist die Kollektivschuldthese, eine Mystifizierung der Nazis ("unerklärbar", "unfassbar" etc.) und die Aussage, dass doch damals alle Schuld auf sich geladen haben - womit aber die individuelle Schuld und die Fehler der einzelnen Parteien nicht erklärt werden, sondern eine Diskussion über diese abgewürgt wird.
                    Zitat von endar
                    Die Loslösung vom Nationalsozialismus begann erst in einer Zeit, als es nicht mehr so gut lief, als die Familien reihenweise Opfer von der Ostfront zu beklagen hatten oder die Bombenangriffe begannen.
                    Meiner Meinung hatten die Bombenangriffe genau den gegenteiligen Effekt. Sie stärkten die Nazis und schafften einen Zustand, der wohl am ehesten dem Ideal der Nazis der "Volksgemeinschaft" entsprach. Diese Bombenangriffe sorgten doch dafür, dass plötzlich nicht mehr die Nazis als grösstes Problem erschienen, sondern die alliierten Bombenangriffe.
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                      #25
                      Tja, eine Legende der Nachkriegszeit kann es nicht sein, weil das Wort und seine Bedeutung bereits vor 1945 existiert haben, wie sich an sehr vielen Quellen darstellen ließe. Es findet sich eben in Zeitungsartikeln, Briefen, Büchern und auch sonstigen Publikationen dieser Zeit massenhaft.

                      Du musst das ein bisschen abstrahieren und von deiner heutigen politischen Sicht herunterkommen, um das zu verstehen. Es war nicht die Bevölkerungsmehrheit, die sich vor 1933 in politischen Auseinandersetzungen geübt hat. Und DIESE Bevölkerungsmehrheit war auch nicht den Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt (wie ich auch oben schon geschrieben habe). Und daher fragte ich, welchem Terror diese Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt wurde?
                      Damit will ich gar nicht ableugnen, dass viele Existenzen zerstört wurden und viele in Lager gekommen und auch ermordet wurden. Aber das betraf nur einen Teil der Bevölkerung, eben den politischen, während die Bevölkerungsmehrheit ein Hakenkreuz auf den Briefbogen hinzuaddierte und voilà - Willkommen im Dritten Reich. Das waren die sich als unpolitisch verstehenden Liberalen und Konservativen.

                      Es ist bei diesen Betrachtungen übrigens erstmal unerheblich, was die politischen einzelnen Parteien nach 1945 dazu gesagt haben oder nicht. Das ist ja nun widerum was ganz anderes.
                      Republicans hate ducklings!

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                        #26
                        Wie politisch kann eine Gesellschaft nach Kaiser Willhem II eigentlich gewesen sein?

                        In der ARD ist ja vorgestern dei 5-teilige Dokumentation Der 1. Weltkrieg angelaufen. Im ersten Teil wurde von Zeutzeugen berichtet, welche Ehrungen man z. B. Hindenburg für den Sieg im Osten gab. Leute stellten sich umrahmte Bilder in die Vitrine. Also erinnern tut mich das an Monarchien, auch wenn nun Hindenburg nicht der Monarch war.

                        Es heisst ja, dass der 1. Weltkrieg bereits den Nährboden für die dann folgenden Nazis schuf, so habe ich es auf jeden Fall verstanden.

                        War die Weimarer Republik also nun so verankert in Volkes Geist, als dass man es als politisierte Geselllschaft bezeichnen konnte?

                        Welche Parteien hatten denn in der damaligen Zeit eine so große Basis und wie hoch waren damals Wahlbeteiligungen?

                        Sollte die Weimarer Republik ein Vorstoß zur Demokratie sein?

                        Als Laie auf diesem Gebiet möchte ich mal einfach behaupten, dass in dieser kurzen Zeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialoismus gar kein politisches Denken entstehen konnte. Liege ich damit richtig?
                        "Education is the most powerful weapon which you can use to change the world."Nelson Mandela
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                          #27
                          Die Weimarer Republik scheiterte in erster Linie daran, dass es ihr an Zustimmung gefehlt hat. Die staatstragenden Parteien wie DDP, SPD und Zentrum hatten nur am Anfang eine Mehrheit. Seitdem hatten die demokratie- und "systemfeindlichen" Parteien meistens die Mehrheit, auch in den "guten Jahren."

                          Das "Unpolitische" habe ich in Beitrag 19 schon einmal beschrieben. Wie gesagt, es ist nicht mit dem Gegenteil des heutigen Verständnisses von "politisch" zu verstehen, sondern eine Haltung, die nach heutigem Verständnis durchaus politisch zu begreifen ist. Unter "unpolitisch" verstehe ich also nicht zum Schweigen gebrachte Demokraten oder Arbeiter z.B., dies war dann eher politische Inaktivität, die sich in Nischentum oder Rückzug ins Private angezeigt hat.

                          Ich poste hier nochmal, auch angesichts des 90. Jahrestags , etwas zu Mann und seinen "Betrachtungen". Ist zwar viel Holz, aber vielleicht interessiert es ja jemanden.

                          Thomas Mann verfaßt die ‘Betrachtungen eines Unpolitischen’ zwischen 1915 und 1918. 1919 erscheinen sie erstmalig, 1922 eine vom Autor gekürzte Ausgabe. Er selbst bezeichnet seine kulturpolitische Streitschrift in der Vorrede als „Mittelding zwischen Werk und Erguß, Komposition und Schreiberei“ , in der er selbst nach politischer Identität sucht; die ‘Betrachtungen’ seien die „Darstellung eines innerpersönlichen Zwiespalts und Widerstreites.“
                          Das Werk läßt sich in den ‘Zeitgeist’ einordnen, wie ein Vergleich mit anderer, kriegsbezogener Literatur zeigt. Die Schrift ‘Der Sinn des Krieges’ von Otto Hintze aus dem Jahr 1916 zeigt Parallelen zu den Betrachtungen. Wie auch Mann es schreibt, spricht Hintze angesichts der Zeitumstände von einem „Gefühl einer großen Schicksalswende, in der die Uhr der Weltgeschichte reguliert wird und auf eine neue Zeit eingestellt wird.“ Hintze faßt für ein anderes Werk eine Grundaussage zusammen, die auch auf die ‘Betrachtungen’ angewendet werden kann:
                          „Eher wäre die Frage einer Erörterung wert, ob wirklich, wie man wohl gemeint hat, in diesem Kriege ‘die Ideen von 1914’ - Ordnung und Gerechtigkeit - gegen ‘die Ideen von 1789’ - Freiheit und Gleichheit - streiten. Aber mag immerhin im Kampf der Geister über den Schlachtfeldern ein solcher Gegensatz der Ideale des inneren Staats- und Gesellschaftslebens mitstreiten, mag auf der einen Seite die Idee der Menschenrechte, auf der anderen die Idee der Pflicht über den Häuptern der Kämpfer schweben -: der eigentliche Sinn dieses Krieges wird dadurch nicht bezeichnet.“

                          Thomas Mann bestimmt diese Vorstellungen - den „Krieg als Kampf deutscher Kultur gegen westliche Zivilisation (...), ein stereotypisches Grundmuster damaliger Kriegspublizistik“ - als ‘eigentlichen Sinn’ des Krieges. Er verteidigt das monarchische System Deutschlands gegen die westlichen Demokratien, bzw. das westliche System. Das monarchische System Deutschlands ist für ihn Ausdruck der spezifischen Lebensweise in Deutschland, des so bezeichneten ‘Deutschtums’. Es, das sich in ‘Ordnung, Autorität und Pflicht’ zeige, gelte es zu verteidigen:
                          „Nicht geahnt hatten wir, daß der unauslöschliche Todhaß der politischen Demokratie, des freimaurerisch-republikanischen Rhetor-Bourgois von 1789 gegen uns, gegen unsere Staatseinrichtung, unseren seelischen Militarismus, den Geist der Ordnung, Autorität und Pflicht am verfluchten Werke war...“

                          Das ‘Deutschtum’, ist für ihn das ‘Positiv’, das er gegen ein ‘Negativ’, welches er mit den Kriegsgegnern gleichsetzt, verteidigt. Zu diesem Zweck thematisiert er gegenüberstehende Begriffspaare, die Pol und Antipol darstellen. Die Bedeutung der Begrifflichkeiten, die Mann verwendet, ergibt sich dabei erst aus dem Zusammenhang. Manns Vorstellung von der Demokratie ist nicht ‘technisch’, nicht staatsrechtlich faßbar. Seine Begrifflichkeiten sind nicht klar umrissen, sondern unterstützen das ‘Positiv’/ ‘Negativ’-Bild. Thomas Mann wendet sich in den ‘Betrachtungen’ nicht gegen das politische System im Ausland im Konkreten, sein Angriffspunkt ist vielmehr das, was er unter Demokratie versteht. Weitere Gegensätze, die er benennt, sind: „Geist und Politik“ , „Deutschtum, Kultur und Zivilisation“ , „Freiheit und Stimmrecht.“ Der Begriff ‘unpolitisch’ ist ein Ausdruck der Abgrenzung gegen die „Politik“, die Mann mit ‘Demokratie’ gleichsetzt. Für ihn ist jeder Politiker gleichzeitig Demokrat.
                          In der Sekundärliteratur findet sich der Hinweis, Thomas Mann habe die Schrift als Reaktion auf die ‘pro-westliche’ politische Haltung seines Bruders Heinrich erstellt.
                          Der Aufbau des Buches stützt diese These. Thomas Mann bestimmt seine Position durch die inhaltliche Abgrenzung von der Figur des „Zivilisationsliteraten“ , der in einigen Kapiteln auch „belles-lettres- Politiker“ genannt wird. Darin handele es sich um eine „Polemik gegen den Bruder, gegen Heinrich Mann, (...) da seitenlang aus dessen ‘Zola-Essay’ zitiert wurde, der offensichtlich einige versteckte Attacken gegen Thomas Mann enthielt.“ Dem Zivilisationsliteraten werden die negativen, ‘undeutschen’ Eigenschaften der Demokratie zugeschrieben. Er wird mit den Begriffen ‘Politik, Zivilisation, Stimmrecht’ identifiziert.
                          Die Ungenauigkeit der Begriffe gilt nicht nur für den Demokratie-Begriff Manns, sondern auch für die anderen, die er zur Stützung seiner Auffassung aufstellt. Die Begriffe sind emotional geprägt. Die ‘Demokratie’ ist für ihn Bestandteil einer Ideologie. Das ‘Deutschtum’ verbindet er mit Bismarck, Nietzsche, Wagner, Fontane und Schopenhauer.
                          Mann lehnt die Demokratie seiner Vorstellung folgerichtig ab, da er sie mit seinem nationalen Standpunkt nicht verbinden kann. Den ‘demokratischen Fortschritt’ definiert er am Ende des Kapitels ‘Der Zivilisationsliterat’:
                          „Es handelt sich um die Politisierung, Liberalisierung, Intellektualisierung, Radikalisierung Deutschlands, es gilt seine ‘Vermenschlichung’ im lateinisch-politischen Sinne und seine Enthumanisierung im deutschen... es gilt, um das Lieblingswort, den Kriegs- und Jubelruf des Zivilisationsliteraten zu brauchen, die Demokratisierung Deutschlands, oder, um alles zusammenzufassen und auf den Generalnenner zu bringen: es gilt seine Entdeutschung...“

                          Dem ‘deutschen Wesen’ sei die Demokratie fremd, sie widerspreche ihm:
                          „Ich bekenne mich tief überzeugt, daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht lieben kann, und daß der vielverschriene ‘Obrigkeitsstaat’ die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt.“

                          Aufgrund der Entwicklung der Ereignisse erwartet Mann für die Zeit nach dem Krieg das Aufkommen eines demokratischen Systems im ‘technischen’ Sinne in Deutschland. Dieses bedeute dann:
                          „Ökonomischer Ausgleich zur Freimachung individuell schöpferischer Kräfte; ein staatstechnisch-pädagogisches Mittel allenfalls zur Freimachung politischer Anlagen: nie wird die deutsche ‘Demokratie’ etwas anderes sein, - solange sie eben deutsche Demokratie, das heißt, mehr ‘deutsch’ als ‘Demokratie’ sein wird; und nicht wird ihr Wesen ‘politisierter Geist’ sein, das heißt darin bestehen, ‘Ideen’ politisch zu verwirklichen und geistsprühende Affären zwischen Säbel und Weihwedel einerseits und der ‘Gerechtigkeit’ andererseits zu inszenieren...“

                          Er sieht die Demokratie innenpolitisch für Deutschland als unpassende Staatsform an: „Die deutsche Demokratie ist nicht echte Demokratie, denn sie ist nicht Politik, nicht Revolution.“
                          Die Aussicht der Demokratisierung stellt für Mann einen Identitätsverlust dar. Die Demokratie versuche die Politisierung des deutschen Volkes, versuche alle Lebensbereiche zu durchdringen. „Die Politisierung des Geistes, wie der Zivilisationsliterat sie meint, stößt hier (in Deutschland, P.B.) auf den tiefsten, unverbrüchlichsten Widerstand...“
                          Die Zivilisation habe man als „den staatlich geordneten und gezähmten menschlichen Zustand zu bestimmen versucht“. Sie sei aber ein „viel zu geistiges Prinzip (...), um bei der Auflösung des Staates haltmachen zu können, viel zu sehr Wille zur Auflösung, um nicht auch nach der Auflösung des Staates zu streben.“ Die Zivilisation werde die „nationalen Leidenschaften einschläfern und zur Ruhe bestatten“ um die „pazifizierte Esperanto-Erde, auf welcher der Krieg unmöglich ist“ , zu schaffen.
                          Die Demokratie bedeute also nicht nur innenpolitisch einen ‘deutschen Wesensverlust’. Weiter sei sie internationalistisch, die Nationalitäten auflösend und daher ein Feind Deutschlands :
                          „(...) soviel ist sicher, daß bei einem Zusammenschluß der nationalen Demokratien zu einer europäischen, einer Weltdemokratie von deutschem Wesen nichts übrigbleiben würde.“

                          Das demokratische System arbeite in seinen Augen gegen das Deutschtum. Auf den ersten Weltkrieg anspielend, spricht er von einer „geistigen Invasion, die möglicherweise bei weitem stärkste und überwältigendste politische Invasion des Westens, die je deutsches Schicksal geworden. Deutschlands seelische Bekehrung (die eine wirkliche Verwandlung und Strukturveränderung sein müßte) zur Politik, zur Demokratie...“ sei das Ziel des Westens, auf dessen Verwirklichung der Zivilisationsliterat warte. Dieses sei die Ursache des Weltkrieges.
                          In Bezug auf den Ersten Weltkrieg thematisiert Mann den Kriegswillen der Demokratie:
                          „(...) schuldig an dem heutigen Zustand Europas, an seiner Anarchie, an dem Kampf aller gegen alle, an diesem Kriege ist die nationalistische Demokratie. Das nationale Prinzip ist das atomistische, das anarchistische, das anti-europäische, das reaktionäre Prinzip. Die Demokratie ist reaktionär, denn sie ist nationalistisch und ohne jedes europäische Gewissen. Wo, unter den Feinden Deutschlands, gäbe es europäisches Gewissen?“

                          An anderer Stelle erklärt Thomas Mann sein „politisches Bekenntnis“:
                          „(...) ich will die Monarchie, ich will eine leidlich unabhängige Regierung, weil nur sie die Gewähr politischer Freiheit, im Geistigen wie im Ökonomischen, bietet. Ich will sie, weil es die Losgelöstheit der monarchischen Staatsregierung von den Geldinteressen war, die den Deutschen die Führung in der Sozialpolitik erwirkte. Ich will nicht die Parlaments- und Parteiwirtschaft, welche die Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik bewirkt.“

                          Die Monarchie stellt für ihn also ein Korrektiv von negativen Einflüssen, wie übertriebenem Kapitalismus, dar. Von der Demokratie erwartet er
                          „Einschränkung der Freiheit, Steigerung des Bureaukratismus, ständige Kontrolliertheit, Gewalt der Majorität über die Minorität, der wahrscheinlich Dummen über die wahrscheinlich Klugen also.“

                          Für Thomas Mann sind das ‘Deutschtum’ und die Bürgerlichkeit gleichzusetzen:
                          „(...) denn das Deutsche und das Bürgerliche, das ist eins; wenn ‘der Geist’ überhaupt bürgerlicher Herkunft ist, so ist der deutsche Geist bürgerlich auf eine besondere Weise, die deutsche Bildung ist bürgerlich, die deutsche Bürgerlichkeit human, - woraus folgt, daß sie nicht, wie die westliche, politisch ist, es wenigstens bis gestern nicht war und es nur auf dem Wege ihrer Enthumanisierung wird...“

                          Die Demokratie bedeutet ihm einen Rückschritt vom Humanen, das er von der ‘politischen Humanität’ der westlichen Demokratien unterscheidet.
                          "Unpolitisch" ist also sehr wohl in Worte zu fassen und beschreibt auch eine ganz spezifische Haltung.
                          Republicans hate ducklings!

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                            #28
                            Puuuuh....wirklich ´ne Menge Holz und ich muss eingestehen, dass da eine ganze Menge an mir vorbei gerauscht ist!

                            Also das werde ich in Ruhe heute Abend noch mal durchlesen mit der Hoffnung, etwas mehr davon zu begreifen.
                            "Education is the most powerful weapon which you can use to change the world."Nelson Mandela
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                              #29
                              Zitat von endar
                              Du musst das ein bisschen abstrahieren und von deiner heutigen politischen Sicht herunterkommen, um das zu verstehen. Es war nicht die Bevölkerungsmehrheit, die sich vor 1933 in politischen Auseinandersetzungen geübt hat. Und DIESE Bevölkerungsmehrheit war auch nicht den Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt (wie ich auch oben schon geschrieben habe). Und daher fragte ich, welchem Terror diese Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt wurde?
                              Damit will ich gar nicht ableugnen, dass viele Existenzen zerstört wurden und viele in Lager gekommen und auch ermordet wurden. Aber das betraf nur einen Teil der Bevölkerung, eben den politischen, während die Bevölkerungsmehrheit ein Hakenkreuz auf den Briefbogen hinzuaddierte und voilà - Willkommen im Dritten Reich. Das waren die sich als unpolitisch verstehenden Liberalen und Konservativen.
                              Die Liberalen und Konservativen, die sich als "unpolitisch bezeichneten" und sich relativ problemlos den Nazis unterordneten, waren aber nicht die Bevölkerungsmehrheit, sondern eine Minderheit. Genau diese Gruppe hat doch massiv Anhänger an die Nazis verloren.

                              Es gab - sehr grob gesagt - drei Gruppen zu Beginn der Naziherrschaft:
                              einmal die überzeugten Nazis, die liberalen und konservativen Mitläufer und die Arbeiterbewegung. Bei letzterer - wie auch bei dem damals sehr wenigen bürgerlichen Oppositionellen - war nur eine Minderheit direkt vom Terror betroffen, aber die politischen Organisationen wurden insgesamt schwer getroffen. Insbesondere die SPD und die Gewerkschaften, die keinerlei Vorbereitungen auf eine Arbeit im Untergrund getroffen hatten, wurden politisch fast komplett ausgeschaltet - mal abgesehen von den Exilorganisationen. Nur die Kommunisten konnten noch mehrere Jahre ihre Strukturen erhalten - bis auch sie der Gestapo & Co zum Opfer fielen. Die Gründe für den schwachen Widerstand aus der Arbeiterbewegung unterscheiden sich von den Gründen für den schwachen Widerstand aus dem Bürgertum und dem Kleinbürgertum. Einer der wesentlichen Gründe für den schwachen Widerstand aus der Arbeiterbewegung ist die Zerstörung der politischen Strukturen, also die Zerstörung einer kollektiven Basis. Beim Bürgertum und Kleinbürgertum (der sozialen Basis der NSDAP!) war der wesentliche Grund für den schwachen Widerstand, dass diese sozialen Schichten mehrheitlich die Nazis aktiv oder zumindest passiv unterstützten und erst angesichts der drohenden militärischen Niederlage überhaupt nennenswerte oppositionelle Aktivitäten entwickelte.
                              Zitat von EVENTHORIZON
                              Wie politisch kann eine Gesellschaft nach Kaiser Willhem II eigentlich gewesen sein?
                              a) Wie kommst du darauf, dass die Gesellschaft im Kaiserreich unpolitisch gewesen wäre? Die stimmt vielleicht für die "unpolitische" Haltung der Bürgerlichen (= freiwillige politische Unterordnung unter den preussischen Adel), aber ist wohl kaum ein generelles Merkmal. Die grösste Partei des Kaiserreichs war die SPD, die nicht durch diese "unpolitische" Haltung des Bürgertums gekennzeichnet war.
                              b) Die Gesellschaft wurde durch die revolutionären Jahre 1918-23 enorm politisiert. Die Verankerung der damaligen Parteien war deutlich grösser als heute. Ein guter Vergleich ist z.B. die SPD, die damals eine eigene Subkultur hatte, während sie heute fast kein funktionierendes politisches Leben an der Basis hat und massiv Mitglieder verliert. Generell waren die damaligen Parteien nicht so kopflastig wie heute - womit ich aber nicht sagen will, dass die Parteien der Weimarer Republik eine bessere Basisdemokratie hatten, sondern eine einfach eine aktivere politische Basis.

                              Endar schreibt, dass die Weimarer Republik an der fehlenden politischer Zustimmung gescheitert ist. Mich erinnert dies etwas an das Argument, es regnet, weil Wasser vom Himmel fällt. Die eigentliche Frage ist doch, warum verloren die Parteien, die sich klar zur Weimarer Republik bekannten, an Unterstützung und somit die Weimarer Republik allgemein? Die Weimarer Republik war durch eine deutliche Polarisierung gekennzeichnet. Anfangs war sie das Mittel der Bürgerlichen gestützt auf die SPD ihre Interessen gegen die sozialistischen Revolutionäre zu bewahren. Als dies nach dem endgültigen Scheitern der Revolution 1923 nicht mehr notwendig war, schwenkte die Mehrheit der Bürgerlichen und des Kleinbürgertums angesichts der erneuten schweren wirtschaftlichen Krise auf eine Unterstützung einer autoritären Lösung zur Zurückdrängen der Errungenschaften der Novemberrevolution (u.a. die Demokratie selbst) um. In der Arbeiterbewegung wurde deutlich, dass die Theorie der SPD, dass sich der "organisierte Kapitalismus" automatisch zum Sozialismus entwickeln würde, gescheitert war. Da aber gleichzeitig die KPD eine katastrophale Politik machte, konnte die Arbeiterbewegung trotz ihrer quantitativen Überlegenheit gegenüber den Nazis (auch in Bezug auf bewaffnete Milizen!); nie mehr die Initiative erlangen.

                              Die Weimarer Republik scheiterte im wesentlichen daran, dass es nie wirklich eine ökonomische Basis für einen Kompromiss zwischen den Klassen gab. Im Gegensatz zur BRD, die eine solche Basis im der Nachkriegszeit aufbauen konnte. Die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren von einer ökonomischen Ausnahmesituation gekennzeichnet, die die typische kapitalistischen Krisenmerkmale zeitweise ausser Kraft setzte. Heute sehen wir eine Entwicklung, die erneut diese Basis zerstört.
                              Resistance is fertile
                              Für die AGENDA 3010! 30-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich und 10 Euro gesetzlichem Mindestlohn!
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                                #30
                                Die Weimarer Republik scheiterte im wesentlichen daran, dass es nie wirklich eine ökonomische Basis für einen Kompromiss zwischen den Klassen gab.
                                Es bliebe nämlich hier zu fragen, wieso z.B. in Großbritannien und Frankreich rechtsradikale Strömungen nicht die politische Vorherrschaft einnehmen konnten, sondern wieso autoritäre Staatsformen sich in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Territorien von Österreich-Ungarn und Deutschland mit Ausnahme der Tschechoslowakei überall durchsetzen konnten. Da lässt sich nicht allein durch ökonomische Gründe erklären.

                                Es gab - sehr grob gesagt - drei Gruppen zu Beginn der Naziherrschaft:
                                einmal die überzeugten Nazis, die liberalen und konservativen Mitläufer und die Arbeiterbewegung.
                                Es verwundert mich nicht, dass du eine Gruppeneinteilung wählst, bei der die Arbeiterschaft als einzige Kraft des potentiellen Widerstandes erscheint. Es sind jedoch Zweifel angebracht, den Erfolg der NSDAP rein „schichtenbegründet“ erklären zu wollen.

                                1. Die Wähler der NSDAP im Juni 1932 (33%) waren sicher nicht alles überzeugte Nationalsozialisten oder bereitwillige bürgerliche Mitläufer, sondern zum großen Teil sicherlich auch Arbeiter.
                                In diesem Zusammenhang ist aber interessant, dass der Anteil der Arbeiter in der SA nach Auswertung verschiedener Quellen in der Zeit vor 1933 wohl 33% - 50% betrug [Longerich, Die braunen Bataillione, München, 1989, S. 81ff]. Die Arbeiter, die Mitglied in der SA waren, waren ja nun auch Bestandteile der Arbeiterschaft. Ökonomische Erklärungsversuche sind wichtig, aber sie erklären eben nicht alles.

                                2. Das höchste Wahlergebnis, das die KPD reichsweit erreichen konnte, war 16,9% 1932. Die SPD bekam bei der gleichen Wahl reichsweit 20%. Wäre die Arbeiterschaft geschlossen für die Parteien der Arbeiterbewegung gewesen, hätten hier aber 45% [Anteil der Arbeiter an den Erwerbstätigen] rauskommen müssen und nicht 36. Es fehlt also rund 1/4 der potentiellen Wähler dieser Parteien. Dies zeigt, dass sich der Nationalsozialismus, zwar in verschiedener Stärke, aber dennoch in allen Schichten ausbreiten konnte.
                                Bei der Wahl vom 5.3.33 kommt man für beide Parteien auf insgesamt 30%, so dass hier sogar ein Drittel, nämlich 15% fehlt/fehlen [und im Vergleich zur Vorwahl 6%], die eigentlich hier hätten auftauchen müssen. Die Arbeiterschaft blieb also keineswegs so immun gegen den Nationalsozialismus, wie du das hier in deiner groben Gruppeneinteilung der Bevölkerung implizierst. Statt dessen zeigen sich Vermischungen.

                                3. Rein ökonmische Erklärungsmuster bedürfen ganz dringend immer auch mentalitätsgeschichtlicher Erklärungen, ebenso wie diese nicht ohne ökonomische Erklärungen auskommen. Gerade in diesem Zusammenhang ist doch auch die Einbindung der pot. Wähler in die Organisationen der Milieuparteien zu erwähnen, welche sich nicht nur aus politischer Überzeugung speiste, sondern für viele auch eine reine Traditionsgeschichte war. Man darf bei „Arbeiterbewegung“ nicht so weit gehen, dass die Mitgliedschaft in einem SPD-Turnverein als „politische Tätigkeit“ zu bezeichnen ist. Wieviele der 6 Mio. KPD-Wähler, wieviele der 7,25 Mio SPD-Wähler waren denn wirklich im echten Sinne „politisch“ tätig? Das wird doch nur ein Bruchteil der Wähler gewesen sein. Was war mit dem Rest? Wieso gingen einige in den Untergrund, während andere sich in den Betriebszellenorganisationen wohl fühlten?

                                Beim Bürgertum und Kleinbürgertum (der sozialen Basis der NSDAP!) war der wesentliche Grund für den schwachen Widerstand, dass diese sozialen Schichten mehrheitlich die Nazis aktiv oder zumindest passiv unterstützten und erst angesichts der drohenden militärischen Niederlage überhaupt nennenswerte oppositionelle Aktivitäten entwickelte.
                                Ach... Gestern oder vorgestern hast du mir da doch noch deutlich widersprochen, als ich sagte, dass die Bindung zwischen NS-Regime und der Bevölkerung ab 1942/43 deutliche Risse bekam.
                                Dort schrieb ich „Die Loslösung vom Nationalsozialismus begann erst in einer Zeit, als es nicht mehr so gut lief, als die Familien reihenweise Opfer von der Ostfront zu beklagen hatten oder die Bombenangriffe begannen.“
                                Diese widerum hätten jedoch die Verbindung zwischen Regime und Bevölkerung gestärkt. Was denn nun? Waren die Bombenangriffe etwa kein Zeichen der drohenden militärischen Niederlage?

                                Die Weimarer Republik war durch eine deutliche Polarisierung gekennzeichnet. Anfangs war sie das Mittel der Bürgerlichen gestützt auf die SPD ihre Interessen gegen die sozialistischen Revolutionäre zu bewahren. Als dies nach dem endgültigen Scheitern der Revolution 1923 nicht mehr notwendig war, schwenkte die Mehrheit der Bürgerlichen und des Kleinbürgertums angesichts der erneuten schweren wirtschaftlichen Krise auf eine Unterstützung einer autoritären Lösung zur Zurückdrängen der Errungenschaften der Novemberrevolution (u.a. die Demokratie selbst) um.
                                Aber du musst auch fragen, welche mentalitätsgeschichtlichen Hintergründe es hatte, dass die Mehrheit der Wähler von der Republik Abstand nahm. Weil sie zum überwiegenden Teil konservativ waren, die Staatsform der Republik für „undeutsch“ hielten etc (vgl. meinen Beitrag von gestern). Störten sich denn deutsche Arbeiter nicht an der Rheinlandbesetzung? Traten die Arbeiter dort nicht in den Streik?
                                Arbeiter waren auch deutsch und sie haben sich ebenso über ihre Nationalität definiert, wie über ihre Schichtenzugehörigkeit. Und das erklärt auch eine ganze Menge.
                                Republicans hate ducklings!

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