bezogen auf die Frage, ob in den letzten Jahren die Brutalität in der Bundesrepublik gestiegen sei, und falls ja, wodurch, hast Du etwas geschrieben, auf das ich angekündigt hatte noch zu reaigeren, weil es mich möglicherweise weiterbringt ->
Zitat von Suthriel
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Ich habe zwar keine Ahnung von Rollenspielen, aber auf jeden Fall stimmt das, was Du sagst, zum einen mit der Anonymisierung in Diskussionsforen überein - man macht mitunter das Gegenüber psychisch in fast kalter Weise fertig, wie man es nie tun würde, wenn dieser Mensch einem real gegenüber stehen oder sitzen oder liegen würde.
Zum anderen passt das zu den "Vermummten" bei den Hamburger Ereignissen.
Der Ausgangspunkt der Eskalation war der, dass bei der ersten als wirklich gefährlich eingestuften Demonstration viele der Demonstranten vermummt waren und die Polizei diese aufforderte, die Vermummung abzulegen. Viele taten das auch, aber eben relativ viele auch nicht.
Die Polizei wollte diesen Zug mit noch immer Vermummten nicht durch die Stadt begleiten, wollte den Anteil der Vermummten nicht demonstrieren lassen, und das war zumindest der Beginn - ob es auch der Auslöser war, ist nur anzunehmen - der Gewaltnacht.
Die Vermummung hatte vermutlich zunächst den Zweck, dass sie bei Gewalttaten nicht erkannt wurden - aber sie hat vermutlich auch den Effekt. dass die einheitlich schwarze Kleidung uniformierte und man sich als Vertreter einer großen gleichgesinnten Gruppe fühlte. Man fühlte sich - möglicherweise - ein wenig oder auch viel ent-individualisiert und sah sich als Verkörperer einer übergeordneten Idee.
Uniformen überhaupt dienen ja Ähnlichem. Man ist nicht unbedingt mehr Einzelperson, sondern "vertritt" "das" Recht" oder "die" Wahrheit".
Und das an sich kann das Indivduum schon enthemmen. In positiver wie in negativer Weise übrigens:
Ein "Friedenssoldat" in Uniform kann sich in einer konkreten Situation darauf besinnen, dass er hier den Frieden vertritt und über die eigene persönliche Individualität hinauswachsen.
Und umgekehrt: der Friedenssoldat kann meinen, alle seine Impulse seien gerechtfertigt durch die Uniform; er missbraucht die Uniform, um in ihrem Namen persönliche Gefühle - wie Hass oder Gewalt - zu rechtfertigen: im "Namen des Friedens".
Dann wurden irgendwann die Server miteinander verbunden, der Pool an Leuten wurde größer, Gruppen konnten nun auch automatisch serverübergreifend gebildet werden, aus einem Pool von mehreren Servern. Und das kann ein Problem sein,
[...]
Und was haben wir hier als Gegenstück zu diesen Serververbunden in der realen Welt? Gigantische Communities auf Facebook, Twitter, Twitch, YouTube, Instagram und Co. wo sich alle hinter anonymen Nicks verbergen können, wenns sein muss, sogar mit jederzeit änderbaren oder von vornherein falschen Adressdaten, um nicht so einfach zurück verfolgbar und greifbar zu sein. Oder halt unsere großen Demos, wo ohnehin nicht jeder erfasst und zurückverfolgt werden kann.
Und wo es keine Regeln gibt, oder vielmehr, wo bestehende Regeln nicht gut durchgesetzt werden können, werden selbst Regeln erstellt und Dinge getan, welche nicht zwangsläufig dem entsprechen, was man als demokratisch, sozial, gut, usw. einstufen würde. Gruppenzwang kommt dann sicher auch noch stellenweise dazu.
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Und was haben wir hier als Gegenstück zu diesen Serververbunden in der realen Welt? Gigantische Communities auf Facebook, Twitter, Twitch, YouTube, Instagram und Co. wo sich alle hinter anonymen Nicks verbergen können, wenns sein muss, sogar mit jederzeit änderbaren oder von vornherein falschen Adressdaten, um nicht so einfach zurück verfolgbar und greifbar zu sein. Oder halt unsere großen Demos, wo ohnehin nicht jeder erfasst und zurückverfolgt werden kann.
Und wo es keine Regeln gibt, oder vielmehr, wo bestehende Regeln nicht gut durchgesetzt werden können, werden selbst Regeln erstellt und Dinge getan, welche nicht zwangsläufig dem entsprechen, was man als demokratisch, sozial, gut, usw. einstufen würde. Gruppenzwang kommt dann sicher auch noch stellenweise dazu.
Ich finde Deine Herleitung sehr interessant, weil ich zumindest im Ansatz ähnliche Überlegungen habe.
Ich versuche mal zu assoziieren, und Du kannst ja sagen, ob Du da noch mitgehst:
Ich sehe den Menschen, in seiner Beschaffenheit so, dass er einerseits individuell und eigenständig kreativ sein möchte,
andererseits aber auch das Bedürfnis hat, sich mit den Massen zu verbinden.
Das ist für mich wie Hunger und Durst, es sind beides angeborene Bedürfnisse.
Aber diese beiden Antriebe - individuell zu sein und gleichzeitig einer überwältigenden kollektiven Community anzugehören - sind zunächst mal Gegensätze.
Wenn eine Gesellschaft oder eine Kultur extreme Individualität verlangt, dann kann das Bedürfnis nach Vereinigung mit einer großen Community sehr stark werden.
In der Epoche der Romantik war die Sehnsucht nach überindividueller Gemeinschaft sehr groß, und es war eine Reaktion auf die Epoche der Aufklärung, die Individualität verlangte.
Letztere setzte auf den individuellen Verstand, erstere auf die gemeinsame "kollektive Seele" aller Menschen.
Ich habe vereinfacht, es gibt auch innerhalb dieser beiden Richtungen sehr viel Differenzierteres, als ich hier notiere.
Mir ging es nur um die Überlegung, dass die eine Seite in einer Epoche überwiegen kann und die Menschen sich dadurch gemüßigt sehen, die andere Seite "einseitig" zu betonen.
Mir fiel bei der Reaktion auf Fantasy-Filme des letzten Jahrzehnts auf, dass bestimmte Fans den Anspruch hatten, voll abtauchen zu können.
Wenn der Regisseur nicht hingekriegt hat, dass dieses Abrauchen restlos gelang, wurde dem Regisseur das Können abgesprochen.
Ungefähr in den Sechziger-Jahren hingegen galt genau dies in der Kunsttheorie als Übel. Bert Brecht mit seiner Verfremdungstheorie wollte genau das auf der Theater-Bühne verhindern:
dass die Zuschauer ihren Verstand abschalteten und in die story versanken.
So sah man in den Sechzigern die Epoche der Romantik sehr misstrauisch an - weil "die kollektive Seele" ziemlich Schlimmes produzieren kann, während schon zwei Jahrzehnte später die Neuromantik blühte. Das Genre "Fantasy" kann man als Fortsetzung der Neuromantik sehen.
Vielleicht noch etwas anders ausgedrückt:
der einseitige Kult des Vestandes und der Wissenschaft - sobald beide die Oberherrschaft beanspruchen - ruft oft den Kult des Kollektiven und Irrationalen hervor.
Und letzterer ruft dann wieder neu eine Gegenbewegung hervor.
Die Lösung kann möglicherweise darin liegen, dass man beide Seiten sowohl in sich selber als auch in der Gesellschaft miteinander verbindet.
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